© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/11 / 30. September 2011

Lückenloser Lebenslauf
Facebook: Wird jeder zu m Großen Bruder?
Baal Müller

Was in George Orwells „1984“ als Schreckensvision totaler Überwachung ausgemalt wird, ist nach Auffassung mancher Datenschützer längst Realität: Internetkonzerne wie Facebook sammeln alle möglichen Daten, die jemand im Internet hinterläßt, und nutzen sie zur Optimierung ihrer Akquise von Werbung von Unternehmen, die dadurch Reste unserer Privatsphäre kolonisieren. Allerdings dient dies weniger politischen, sondern in erster Linie wirtschaftlichen Zwecken, und – hierin besteht wohl ein noch größerer Unterschied zu Orwell – die Internetnutzer machen freiwillig mit. 800 Millionen Nutzer hat Facebook als größtes „soziales Netzwerk“, und jede Veränderung seiner Funktionen ist von globaler gesellschaftspolitischer Bedeutung.

Kürzlich hat Facebook-Gründer Mark Zuckerberg zwei Neuerungen vorgeschlagen, die die Netzwelt wieder einmal revolutionieren könnten: Erstens soll der „Open Graph“ erweitert werden, das heißt, der Facebook-Bekanntenkreis erhält ohne persönliches Zutun deutlich mehr Informationen automatisch mitgeteilt; und zweitens wird der „Lifestream“, der die vergangenen Aktivitäten auflistet, unter dem Schlagwort „Timeline“ zu einer digitalen Biographie ausgeweitet.

Bislang rutschen die früher geposteten Ereignisse so schnell aus dem sichtbaren Bereich heraus, so daß sie de facto verschwinden. Die neue „Timeline“ hingegen soll auch sämtliche älteren Daten vollständig und nach Wichtigkeit geordnet – entweder sofort erkennbar oder „zusammengeklappt“ – präsentieren, so daß von jedem Nutzer ein möglichst lückenloser Lebenslauf dokumentiert ist. Auch der scheinbar unwichtigste Info-Schnipsel über das letzte Mittagessen oder die soeben gehörte Musik soll nicht verlorengehen. Weil es wirklich „Freunde“ interessiert? Weil es das eigene Ego aufwertet? Oder doch in erster Linie wegen der Interessen der Unternehmen, vor deren Vertretern Zuckerberg seine Änderungen präsentierte?

Die Reformen zielen auf den Erhalt und die Nutzbarmachung ungeheurer Datenmassen sowohl in diachroner als auch in synchroner Hinsicht: Sofort wird man unterrichtet, was ein „Freund“ gerade macht, und erst recht wird man informiert, wenn mehrere dasselbe tun, damit man sich bei ihrer Aktivität einklinken kann, was die soziale Bindung verstärken soll – aber auch die Abhängigkeit vom „Netzwerk“ fördert. Jeder ist des anderen „Großer Bruder“, aber jeder wird auch selbst beobachtet.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen