© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/11 / 30. September 2011

Das siebente Weltwunder der Moderne
Pharmaforschung: Die Geschichte der Anti-Baby-Pille in Erwartung der „Pille für den Mann“
Dieter Neumann

Der letzte Überlebende der „Väter der Pille“, der 1939 in die USA emigrierte österreichisch-jüdische Chemiker Carl Djerassi, ein Genie der Bewirtschaftung seines eigenen Forscherruhms, datiert den Geburtstag eines der „sieben Weltwunder der Moderne“ auf den 15. Oktober 1951. An diesem Tag synthetisierte der 1923 in Wien geborene Wissenschaftler mit Kollegen ein Norethisteron und schuf so die Grundlage für die hormonelle Verhütung.

Allerdings erkannte Djerassi die Bedeutung seiner Entdeckung zunächst nicht. Anderen Chemikern und Medizinern blieb es vorbehalten, das Tor zur Produktion eines marktfähigen oralen Verhütungsmittels, der „Anti-Baby-Pille“, aufzustoßen. Deren „Geburtstag“ könnte man daher mit gleichem Recht auch auf den 18. August 1960 (JF 33/10) oder den 1. Juni 1961 verlegen, als in den USA und in der Bundesrepublik die winzigen Dragees in Frauenhand landeten. In der DDR dauerte es sogar noch bis zum 15. November 1965, als „Ovosiston“, eine Kreation des „Volkseignen Betriebs“ Jenapharm, als Medikament zugelassen wurde.

Da das synthetische Progesteron aus der tropischen Yams-Wurzel nur für westliche Devisen zu bekommen war, griff das 14köpfige sozialistische Wissenschaftlerkollektiv notgedrungen auf die Gewinnung von Hormonen aus heimischer Schweinegalle zurück. „Ovosiston“ wurde sogar zu einem Exportschlager des thüringischen Pharmaunternehmens.

Die beiden Berliner Chemiker Sabine Streller und Klaus Roth schildern, weit zurückschauend auf die ersten tastenden Versuche um das Jahr 1918, die physiologischen „Spielregeln“ des weiblichen Zyklus zu erhellen, den wissenschaftshistorischen Hintergrund dieser für viele Frauen bequemsten Form der Empfängnisverhütung.

Dabei sind sie freilich allzusehr auf das antiquiert wirkende Fortschrittsnarrativ vom triumphierenden Entdeckergeist fixiert (Chemie in unserer Zeit, 4/11). Angesichts explodierender Bevölkerungszahlen in Afrika und Asien wünschen sie vielleicht auch zu unreflektiert die konsequente Fortschreibung dieser „Erfolgsgeschichte“, um dem größeren Teil der weiblichen Menschheit endlich eine sichere Kontrolle über ihre Schwangerschaft zu ermöglichen.

Weil Streller und Roth sich vordergründig den biochemischen Lösungsversuchen des Problems der hormonellen Unterdrückung der Eireifung widmen, werden die sozialpolitischen Voraussetzungen eines solchen Forschungsprozesses mitunter von ihnen vernachlässigt. So erwähnen sie zwar den bedeutenden Anteil des Nobelpreisträgers Adolf Butenandt und dessen Kooperation mit der Berliner Schering AG in den dreißiger Jahren, aber den Namen des Gynäkologen und Hormonforschers Carl Clauberg sucht man vergeblich. Der Professor von der Universität Königsberg war seit 1942 mit der Sterilisation weiblicher Häftlinge in Auschwitz und später in Ravensbrück befaßt. Immerhin stellen die Autoren zutreffend die US-Frauenbewegung und deren zentrales, aus dem Ideenpool der Aufklärung gespeistes Motiv individueller „Selbstbestimmung“ als treibende Kraft in der Entwicklungsgeschichte der „Pille“ anschaulich heraus.

Wenn 2012 die letzte Phase der klinischen Prüfung der „Pille für den Mann“ abgeschlossen sein wird, dürfte es nach Ansicht von Streller und Roth jedoch richtig „spannend“ werden, etwaige Machtverschiebungen in dem vom Kult des Individuums diktierten Geschlechterkampf zu beobachten.

Foto: Hormonspritze als künftige „Pille für den Mann“: Im kommenden Jahr erfolgt die letzte Phase der klinischen Prüfung

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