© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/11 / 30. September 2011

Der Flaneur
Stehen gelassen
Felix Springer

Es ist einer jener langen Reisetage, die nachträglich außergewöhnlich langgezogen wirken, weil es so viel zu sehen gab. Unser gemeinsamer Weg beginnt in einer zuvor von mir nur selten betretenen Straße in einem zerfallenden Gründerzeitviertel. Viele Wohnungen stehen hier leer, obwohl systematisch saniert wird, und so gähnen mich von der uns gegenüber liegenden Straßenseite die toten Fensteraugen eines fröhlich verputzten Hauses mit neuem Dach an.

Das stehengebliebene Bauschild gibt neben einer Sammlung bunter Amtsinsignien den August 2008 als geplantes Bauende an, aber nichts deutet darauf hin, daß seitdem jemand hier eingezogen wäre. Keine hundert Meter weiter errichten Arbeiter trotzdem schon das nächste Gerüst: Sie müssen den Stuck über den Fenstern abschlagen – für die nächste Sanierung. Traurig fasse ich die Menge der wegzubrechenden Winkel und Säulchen ins Auge – sie passen wohl tatsächlich nicht in unsere Spiegelfassadenzeit.

Wir erreichen den Bahnhof. Der hat zwar noch sein verrußtes Dekor, dafür aber keine Wärmedämmung. Die Bestimmungen der Verwaltung dekretieren das Gelände als rauchfrei, wie ich von einem leuchtend gelben Schild erfahre. Das Schild ist das neueste am ganzen Bahnhof. Ein Mann in der Uniform eines privaten Sicherheitsdienstes lehnt direkt daneben an einer Absperrung und brennt lässig und zufrieden seinen Tabakstengel ab. Die Morgensonne findet sein Gesicht und läßt ihn blinzeln.

Eine mechanisch hallende Frauenstimme warnt unsere kleine Reisegruppe vor einer Zugdurchfahrt und Sekunden später läßt uns tatsächlich ein Schnellzug seinen Wind um die Köpfe rauschen. Unter unseren Füßen zittert der Bahnsteig wegen der Geschwindigkeit mit. Unsere Abfahrt hingegen fällt wegen einer Weichenstörung aus, wir müssen umplanen und unsere Reise umständlicher fortsetzen.

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