© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/11 / 07. Oktober 2011

Das globale Lebensbuch
Internet: Wie Facebook die Lebensweise von Millionen Menschen weltweit verändert
Baal Müller

Der durchschnittliche Medienkonsument begann in den späten neunziger Jahren, das Internet als Kommunikations- und Informationsmedium sowie als Einkaufsmöglichkeit zu nutzen. Vieles hielt man für überflüssig, aber man fand es praktisch, schnell eine E-Mail schreiben zu können, wenn es für einen Anruf zu spät, für einen Brief aber zu eilig oder gerade keine Briefmarke zur Hand war. Wer seit längerem ein seltenes antiquarisches Buch suchte, konnte plötzlich zwischen mehreren Angeboten wählen, und bald erledigte man nicht nur einen Großteil seiner Einkäufe online, sondern gewöhnte sich auch schnell daran, dabei sensible Daten mitzuteilen.

Alles war zu bequem, um sich lange dagegen zu sträuben, und beruflich ging seit der Jahrtausendwende sowieso nichts mehr ohne Internet, es sei denn, man wollte sich auf einfachste Handlangertätigkeiten beschränken. Wählte man sich in der Online-Steinzeit „nur“ einmal täglich mit einem langatmig piepsenden Modem ein, so ist man heute viele Stunden am Tag, oft von morgens bis in die Nacht, online. Internetsucht gilt mittlerweile als Krankheit, von der in Deutschland, nach einer kürzlich von der Drogenbeauftragten der Bundesregierung Mechthild Dyckmans vorgestellten Studie, rund 560.000 Menschen betroffen sind.

Einen besonderen Anteil an dieser Entwicklung haben die sogenannten „sozialen Netzwerke“ wie Facebook, das – 2004 von Mark Zuckerberg zunächst nur für Studenten der Harvard Universität entwickelt – im Januar dieses Jahres auf einen Marktwert von 50 Milliarden Dollar kam und derzeit knapp 800 Millionen registrierte Nutzer hat.

Es ist erstaunlich, worin die ungeheure Faszination einer Einrichtung besteht, die uns eigentlich nur ermöglicht, Fotos und persönliche Informationen ins Netz zu stellen, andere Nutzer zu kontaktieren bzw. sich mit ihnen als „Freund“ zu verlinken oder mit ihnen zu chatten. „Eigentlich nur“ – denn hinter dem Erfolg von Facebook stehen gewaltige ökonomische Interessen, die nun dank einiger auf den ersten Blick banaler Neuerungen noch besser bedient werden können: Durch die „Open-Graph“-Funktion werden künftig noch mehr Inhalte allen anderen Facebook-„Freunden“ automatisch mitgeteilt, und eine neue „Timeline“ soll die gesamte Biographie des Nutzers, lückenlos und benutzerfreundlich präsentiert, dokumentieren. Da Facebook seine Daten an Wirtschaftsunternehmen verkauft, können diese bald ein gutes Zehntel der Weltbevölkerung mit werbestrategischem Röntgenblick durchleuchten.

Natürlich gibt es Kritik von Datenschützern, die – mit Recht – den „gläsernen Bürger“ an die Wand malen, aber was nutzen alle Warnungen vor dem Orwell-Staat, wenn jeder begeistert mitmacht und jegliches Konzept von Privatsphäre für altmodisch und „uncool“ hält? Offensichtlich kommt Facebook einem sich derzeit entwickelnden – bei der jungen Generation schon vorherrschenden – Lebensgefühl der westlichen Welt so sehr entgegen, daß alle Bedenkenträgerei sinnlos erscheint. Es sind wohl drei Sehnsüchte, die Facebook vor allem anspricht:

Erstens gibt es in einer weithin „versingelten“ Gesellschaft starke emotionale Defizite. Die Vernetzung mit Online-Freunden wirkt dem Gefühl von Einsamkeit und (oft auch finanziell bedingter) Isolation entgegen – erzeugt diese aber zugleich, so daß der einmal abhängig Gewordene in einen Drogen-Teufelskreis hinabgezogen wird: Wie der Spieler immer mehr Geld dort verliert, wo er welches zu gewinnen hofft, isoliert sich der Internetsüchtige und verliert seine „Offline-Freunde“, ohne in den Weiten des Netzes neue Freundschaften zu gewinnen.

Das Internet erzeugt eine Illusion von Nähe, ohne daß einem, wie in einer realen zwischenmenschlichen Beziehung, etwas abverlangt würde. Man chattet täglich mit virtuellen Bekannten, die jedoch nicht, wie echte Freunde, plötzlich vor der Tür stehen, wenn sie Probleme haben. Falls sie anfangen, einem lästig zu werden, kann man den Kontakt „im Prinzip“ beenden, was man aber nicht so oft macht, wie es manchmal nötig wäre; stattdessen setzt man sich dem Druck aus, immerzu noch jemandem mailen zu müssen, weil es unhöflich wäre, die letzte lange Nachricht unbeantwortet zu lassen – und oft genug geht dies zu Lasten des realen, etwa familiären Umfeldes.

Zweitens verschafft das Online-Netzwerk durch die generelle – allerdings nur scheinbare – Einebnung von Hierarchien dem einzelnen eine „gefühlte Prominenz“, die im Fernsehen durch Casting-Shows angestachelt wird, im Internet aber ganz ohne jeden Einsatz zu haben ist. „Auch du kannst ein Star sein“, lautet das Prinzip, „du mußt dich nur so präsentieren.“ Je nach Alter, Interessen und Mentalität posiert man wie ein Model, teilt seine Meinungen zum Weltgeschehen mit oder informiert in vordergründig spaßiger, vielleicht aber schon als Zwang empfundener Form, über Kochrezepte und Musikvorlieben, Joggingrunden und Diäterfolge, das neue Hemd und die neue Freundin.

Und drittens bedienen „Communities“ wie Facebook mit der Illusion der flachen Hierarchien die Utopie vom globalen Dorf, von der offenen, demokratischen Gesellschaft, in der sich jeder „engagieren“ kann, indem er irgendwo eine Online-Petition unterzeichnet. Tatsächlich liegen die eigentlichen Hierarchien, steil wie eh und je, im dunkeln, denn nur die „große Krake“ verfügt über alle Daten, und der einzelne wird, nicht zuletzt auch politisch, überwacht und mit Konsumanreizen penetriert, ohne es zu bemerken.

Trotzdem sollte man sich eine zu einfache konservative Kulturkritik versagen. Sie ginge ins Leere, denn die Windmühlen drehen sich weiter, auch wenn der Ritter von der traurigen Gestalt sie bekämpft. Zudem würde sie die in all dem liegende, stets gefährdete Freiheit ignorieren: Wie man jedes Spiel auch mit Bedacht spielen kann, ohne süchtig zu werden, so lassen sich soziale Netzwerke im Internet tatsächlich nutzen, um Bekanntschaften zu knüpfen, das Geschäft zu bewerben, eine politische Gegenöffentlichkeit herzustellen oder sogar um die große Liebe zu finden. Man darf nur nicht in der bequemen Virtualitätsfalle hängenbleiben.

Foto: Schöne neue Welt von morgen: Konservative Kulturkritik ginge ins Leere, denn die Windmühlen drehen sich weiter

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