© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/11 / 07. Oktober 2011

Zurück zur Sozialen Marktwirtschaft
Balance halten
Lothar Czayka

Nach dem Scheitern der realsozialistischen Systeme konnten Kritiker, die vor den ökonomischen und gesellschaftlichen Gefahren eines weitgehend deregulierten Kapitalismus warnten, kaum noch zu Wort kommen. Dann kam die weltweite Krise des Finanzsystems, die noch lange nicht ausgestanden ist, und man sollte meinen, daß nun bei unserem Führungspersonal in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft auf breiter Front ein Lerneffekt zu beobachten sei.

Aber weit gefehlt, das Feld beherrschen immer noch Betonköpfe. Die unermüdlichen Kritiker „verkrusteten Denkens“ leiden in hohem Maße selbst unter dieser Krankheit. Insbesondere die mittleren Talente, die in unserer Gesellschaft heute Führungspositionen innehaben, predigen uns ständig die Notwendigkeit lebenslangen Lernens in der „Wissensgesellschaft“ und sind selbst nicht fähig oder nicht willens zu lernen.

Statt sich nun endlich von der ideologischen Umgarnung des Verstandes durch den Chicago-Liberalismus zu befreien und wieder selbständig zu denken, wird abgewiegelt: Die Finanzkrise sei historisch einzigartig und damit prinzipiell nicht vorhersehbar gewesen. Dem Staat nun wieder mehr Kompetenzen einzuräumen, sei grundfalsch. Es handle sich nicht um Systemfehler, sondern nur um moralisches Fehlverhalten einzelner Personen. Deshalb müsse die „Gier“ der Akteure in der Finanzbranche und in den Großkonzernen vor allem durch ethische Appelle eingedämmt werden. Im übrigen habe man doch in Deutschland die Krise hervorragend bewältigt, und schließlich gäbe es ja auch keine System-Alternativen.

Die Frage nach den Ursachen muß aber gestellt werden, bevor sie in Vergessenheit gerät. Nur dann kann die Krise auch eine Chance sein, eine Chance zum Lernen. Eine der Ursachen für unsere seit langem anhaltenden und sich weiter zuspitzenden ökonomischen und sozialen Probleme liegt in den Köpfen vieler hochdotierter Führungskräfte. Trotz einer Armee teurer Berater für alle möglichen persönlichen Defizite offenbaren sie meist ein unzureichendes Verständnis unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, einen gravierenden Mangel an historischer Bildung, an geistiger Beweglichkeit, an politischer Weitsicht und vor allem an Ideologie-Resistenz.

An den Wirtschaftsfakultäten, wo heute ein großer Teil unseres Führungspersonals ausgebildet wird, sollten statt mathematischer Nutzen- und Gewinnmaximierungsmodelle wieder mehr Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Geschichte der ökonomischen und der politischen Theorie gelehrt und selbständiges, kritisches Denken eingeübt werden. Dringend notwendig ist jetzt vor allem Nachhilfe-Unterricht über die Funktionsmängel und die Störanfälligkeiten unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Für diesen Zweck müssen keine neuen Theorien entwickelt werden, es genügt ein gründliches Studium etwa der Werke von Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Walter Eucken.

Nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme in Mittel- und Osteuropa hat eine bedauerliche Verarmung des ökonomischen und politischen System-Denkens stattgefunden. Man unterscheidet platterdings nur noch zwischen „Kapitalismus“ und „Sozialismus“, ohne an die Vielfalt tatsächlicher und möglicher Spielarten beider Systeme zu denken. Aufgrund der historischen Erfahrung wissen wir ziemlich sicher, daß der Wirtschaftsprozeß in kapitalistischen Systemen sowohl mit ständigen als auch mit periodisch auftretenden sozialen Problemen verbunden ist, die die Betroffenen nicht selbst zu verantworten haben.

Die wohl gravierendsten Probleme, die die Stabilität des Systems gefährden können, sind länger anhaltende Massenarbeitslosigkeit, eine im Laufe der Zeit zunehmende Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung sowie sporadisch auftretende Finanzkrisen, die meist durch kreditfinanzierte Spekulationsblasen ausgelöst werden. Weil private Wohltätigkeit nach alter Gutsherrenart erstens willkürlich, ja unzuverlässig und zweitens für die Betroffenen oft demütigend ist, sind in kapitalistischen Systemen Sozial- und Konjunkturpolitik als notwendige staatliche Daueraufgaben zu betrachten.

Im weitgehend unregulierten Kapitalismus gibt es eine Tendenz zunehmender Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung. Kritik daran wird heute meist nur unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten geübt und von der Gegenseite mit dem Neidargument, dem Leistungsargument und der Behauptung abgetan, daß doch nur verteilt werden könne, was vorher produziert worden sei. Keines dieser Argumente ist stichhaltig. Neid gibt es erfahrungsgemäß weniger zwischen als vielmehr innerhalb der verschiedenen sozialen Schichten. Für die Leistung von Beziehern hoher Einkommen gibt es meist kein objektives Meßverfahren.

Über die Einkommensverteilung wird im allgemeinen vor und nicht nach der Produktion entschieden. Im übrigen wird heute bei jeder Gelegenheit versucht, die Bedeutung der Verfügung über materielle Mittel für das menschliche Glück herunterzuspielen. Ob die Reichen glücklicher oder unglücklicher sind als die Armen oder ob es da überhaupt einen Zusammenhang gibt, sei dahingestellt. Die in unserem Grundgesetz allen Bürgern gleichermaßen garantierten politischen Freiheiten sind sehr wichtig, aber mindestens ebenso wichtig ist die faktische soziale und wirtschaftliche Freiheit der Menschen im Sinne von individuellen Handlungsspielräumen und Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung. Diese Freiheit, die viel mit der Verfügung über materielle Mittel zu tun hat, ist in unserer Gesellschaft sehr ungleich verteilt. Die zunehmende Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung ist aber nicht nur unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten problematisch, sondern vor allem unter dem Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit des kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Systems. Denn der einzige volkswirtschaftliche Sinn und Zweck von Investitionen ist die Erweiterung des künftigen Konsum-Potentials. Die Kapitaleigentümer und ihre hochdotierten Manager trachten aber nicht primär nach einer Steigerung ihres Konsumniveaus, sie streben nach Vermehrung ihres Kapitals durch Reinvestition des größten Teils ihrer Gewinne und Zinserträge, ihrer Saläre und Boni.

Dieses Ziel können sie aber dauerhaft nur dann erreichen, wenn diejenigen, die noch viele unbefriedigte Konsumbedürfnisse haben, über genügend Kaufkraft verfügen, wenn also wegen lang anhaltender Massenarbeitslosigkeit nicht ständig eine „zurückhaltende“ Lohnpolitik durchgesetzt werden kann. Denn eine endlose Investitionskonjunktur kann es nicht geben. Das Ausweichen in reine Finanzmarkt-Geschäfte führt – wie wir gerade sehen – nur in desaströse Zustände.

Und schließlich bedeutet eine zunehmende Konzentration von Einkommen und Vermögen in immer weniger Händen anonyme Machtausübung durch eine kleine Minderheit, die unkontrolliert über das Schicksal von Millionen Menschen entscheidet. Das widerspricht den Grundprinzipien unseres Gemeinwesens. Eine Bedrohung unserer Freiheit geht heute weniger vom Staat, sondern vielmehr von finanzmächtigen privaten Clans und Organisationen aus, die daran interessiert sind, daß die Verteilungsfrage aus der öffentlichen Diskussion immer wieder ausgeblendet wird.

Daß freier Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt zu sozial unakzeptablen Ergebnissen führt, das sah schon Adam Smith, der große Vorkämpfer des Wettbewerbsprinzips. Er ging davon aus, daß die Unternehmer auf dem Arbeitsmarkt wegen ihrer relativ geringen Anzahl immer im Vorteil seien, weil sie sich bezüglich der Arbeitsbedingungen insbesondere hinsichtlich der Lohnhöhe leicht verständigen, also den Wettbewerb auf ihrer Marktseite ausschalten könnten und dies normalerweise auch tun würden. Deshalb plädierte er für die Aufhebung des zu seiner Zeit noch geltenden Gewerkschaftsverbots.

Vor allem aber: Freier Wettbewerb bietet keine Garantie für dauerhafte Vollbeschäftigung. Im Gegenteil: Wettbewerb bedeutet eine permanente Unsicherheit aller Arbeitsplätze. Je schärfer der Wettbewerb auf den Gütermärkten, um so stärker der Zwang zur Kostensenkung durch technologische und organisatorische Rationalisierung der Produktion mit der Folge mehr oder weniger umfangreicher Freisetzung von Arbeitskräften. Weil der technische Fortschritt selbst im Dienstleistungsbereich meist arbeitssparend ist, handelt es sich um eine überzyklische Tendenz zur langfristigen Verschärfung des Beschäftigungsproblems.

Seit jeher ist auf dem Arbeitsmarkt ein Überangebot an Arbeitskraft die Regel und Arbeitskräfte-Knappheit die Ausnahme. Für Menschen, die heute auf dem globalisierten Arbeitsmarkt nichts anderes als durchschnittlich qualifizierte Arbeitskraft anzubieten haben, sieht die Zukunft nicht besonders rosig aus: Mal diesen und mal jenen Job annehmen, mal hier und mal dort, mal länger und mal kürzer arbeiten, selten ein bißchen mehr und meistens weniger verdienen, bei Verlust des Arbeitsplatzes im mittleren Lebensalter kaum noch Aussicht auf einen gleichwertigen neuen Arbeitsplatz.

Die von den Arbeitskräften erwartete hohe berufliche und räumliche Mobilität ist mit beträchtlichen individuellen und gesamtwirtschaftlichen Kosten verbunden und bedeutet für viele Menschen auch den endgültigen materiellen und sozialen Abstieg. Die seit langem betriebene Politik zur „Flexibilisierung der Arbeit“ sorgt für eine ständige Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse. Bei einer solchen Lebensperspektive für junge Menschen ist es kein Wunder, wenn die Geburtenrate zurückgeht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich in allen westlichen Industrieländern ein wohlfahrtsstaatlicher Kapitalismus, in dessen Rahmen die Entfaltung der Produktivkräfte zum ersten Mal in der Geschichte mit einer bemerkenswerten Steigerung des Lebensstandards der breiten Masse der arbeitenden Bevölkerung einherging. Die deutsche Variante war das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, das bis etwa zum Ende der 1970er Jahre des vergangenen Jahrhunderts als Richtschnur für die praktische Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik betrachtet wurde. Trotz der Zwänge, denen wir heute im globalen Wettbewerb unterliegen, sollten wir uns auf dieses Modell zurückbesinnen.

Der Schlüssel zur Lösung der meisten unserer ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme – Arbeitslosigkeit, übermäßige Staatsverschuldung, Aufrechterhaltung der Systeme der sozialen Sicherung, Bildungs- und Ausbildungsdefizite, Bevölkerungsentwicklung, Umweltschutz – liegt nicht im ständigen Ausbau unserer Exportabhängigkeit, sondern in der Korrektur der Einkommens- und Vermögensverteilung.

 

Prof. Dr. Lothar Czayka, Jahrgang 1937, lehrte von 1974 bis 2002 Volkswirtschaftslehre an der Universität Frankfurt am Main. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt („Der totalitäre Wettbewerb“, JF 51/05).

Der Zentralismus der EU bedroht die Marktfreiheit, meinte Michael von Prollius vor zwei Wochen an dieser Stelle. Lothar Czayka sieht das kapitalistische System eher durch eine asymmetrische Einkommens- und Vermögensverteilung in Frage gestellt.

Foto: Ludwig-Erhard-Büste: Der Vater der Sozialen Marktwirtschaft wußte, daß der Markt Asymmetrien schafft, die eines sozialen Ausgleichs bedürfen

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