© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/11 / 07. Oktober 2011

Die andere Islamwissenschaft
Markus Groß und Karl-Heinz Ohlig haben einen Sammelband über die „Entstehung einer Weltreligion“ herausgegeben
Gabriel Burho

Der emeritierte Religionswissenschaftler Karl-Heinz Ohlig hat sich den Wurzeln einer heutigen Weltreligion genähert. Bei seinem aktuellen Sammelband handelt es sich bereits um den fünften Band der „Schriften zur frühen Islamgeschichte und des Koran“ der Inârah Forschergruppe. Beginnend mit dem ersten Ohlig-Band „Die dunklen Anfänge“ entwarf dieser Kreis, der sich jetzt den Namen Inârah (arabisch Aufklärung) gegeben hat, ein alternatives Bild der islamischen Frühzeit.

Entgegen der muslimischen Tradition sieht vor allem Karl-Heinz Ohlig in Muhammad keinen Eigennamen eines arabischen Propheten, sondern ein Epitheton Jesu Christi (arabisch: hammada – salben, preisen; muhammadun – der Gesalbte, der Gepriesene) und im gesamten Frühislam eine orientalisch-christliche Strömung, die sich erst im 8. Jahrhundert n. Chr. zu einer eigenständigen Religion entwickelte. Erst danach sei mit der Personifizierung des Ehrennamens Jesu zu einem Propheten der Araber ein eigenständiger Gründungsmythos geschaffen worden.

In diesem Sinne versteht die Inârah- Gruppe den Koran auch als ein Textzeugnis, das bereits vor der Entstehung des Islam (um das Jahr 610 n. Chr.) irgendwo im Gebiet des heutigen Südturkmenistan und Nordafghanistan entstand. Ohlig sieht dabei die ursprüngliche Textform als eine Art „Zettelkasten“ mit exegetischen Anmerkungen zu biblischem Material, das in erster Linie für den internen Gebrauch unter Mönchen und Priestern gedacht war und erst mit seiner Transformation in das begründende Dokument einer Religionsgemeinschaft und in seine heutige Form gebracht wurde. Die lange Entstehungsgeschichte erkläre dabei auch die vielen ideologischen Umbrüche innerhalb des Textes.

Dabei legt die Inârah-Gruppe den Finger in die Wunde der westlichen Islamwissenschaft. Im Gegensatz zu der weitverbreiteten Ansicht ist die islamische Religion eben nicht „im vollen Licht der Geschichte“ entstanden. Für die ersten 150 Jahre existieren fast keine schriftlichen oder andersartigen Belege. Was die islamische Tradition und in ihrer Folge die Mehrheit der westlichen Islamwissenschaftler von der Entstehung des Islam zu wissen glauben – und was entsprechend auch in Deutschland über den Islam gelehrt wird –, beruht fast ausschließlich auf dem Koran selbst sowie den Werken der islamischen Traditionsliteratur, die jedoch erst 150 Jahre nach der Entstehung des Islam nachzuweisen sind.

Seitens der etablierten Islamwissenschaften wird den Mitgliedern von Inârah entsprechend die wissenschaftliche Kompetenz abgesprochen. Vor diesem Hintergrund sind auch die ersten beiden, von den Herausgebern verfaßten, Kapitel des vorliegenden Sammelbandes der Selbstverteidigung und dem Gegenangriff gewidmet. Groß und Ohlig beklagen die „verweigerte fachliche Diskussion“ und werfen ihrerseits der Gegenseite ein „Fehlen von historischem Verstehen und historisch-kritischer Methodik“ vor. Besonders das „Corpus Coranicum“, Projekt der Arabistin Angelika Neuwirth an der Berliner Freien Universität, steht dabei in ihrer Kritik.

Allerdings schafft es auch Inârah nicht, sich aus einem selbstreferentiellen Rahmen zu lösen. Wenn Groß und Ohlig vom Konsens über die Betrachtung der islamischen Frühzeit sprechen, ist lediglich der Konsens der eigenen Mitglieder gemeint, und die Selbstimmunisierung gegen Kritik von Fachkollegen zeugt von schlechtem wissenschaftlichen Stil.

Nach einer Einführung in die bisherige Forschung der Inârah-Gruppe durch Karl-Heinz Ohlig versucht Volker Popp „Theologische Umbrüche im Islam“ anhand epigraphischer Zeugnisse zu belegen. So ist für ihn die Schahada („Es gibt keinen Gott außer Gott und Muhammad ist der Gesandte Gottes“) ein aus zwei originär unabhängigen Teilen zusammengesetztes Textstück, das westlich-christliche Konzepte mit der Tradition des alten orientalischen Christentums verflicht. So lautet seine Übersetzung des zweiten Teils „und gepriesen sei der Gesandte Gottes“. Auch die Umma (klassisch die Gemeinschaft aller Muslime weltweit) ist für ihn eine apokalyptische Auferstehungsgemeinde der Erretteten.

Gilles Courtieu legt eine philologische Neubetrachtung des Werkes über die „Hundert Häresien“ des Johannes von Damaskus (gestorben 754 n. Chr.) vor, auf den der erste nichtislamische Bericht über den frühen Islam zurückgeht. Dabei konzentriert er sich auf die Einleitung des Kapitels über den Islam, der als hundertste Häresie behandelt wird und mit den Worten „Und außerdem gibt es“ beginnt. Folglich plädiert auch er für ein Verständnis des frühen Islam als einem spezifischen christlichen Kultus. Johannes Thomas kritisiert fehlende Bereitschaft zur Quellenkritik in der Islamwissenschaft, die, wie er an seinem Beispiel der Inkonsistenz der verschiedenen Berichte zur arabischen Eroberung Spaniens deutlich macht, mehr als angebracht wäre.

Elisabeth Puin weist anhand einer Untersuchung eines bereits 1972 in Sanaa gefunden Koranmanuskriptseite (Palimpset) nach, daß es mehrere, zum Teil recht unterschiedliche Koranfassungen gegeben hat. Anhand der „Korrekturen“, die sich in dem vorgestellten Palimpsest nachweisen lassen, wird deutlich, daß sowohl Inhalt als auch Surenfolge anfangs sehr offen waren und in der Redaktion, welche die islamische Tradition mit dem zweiten und dritten Kalifen verbindet, auch ein Kanonisierungsprozeß zu sehen ist.

Munther Younes argumentiert anhand einer Untersuchung von Sure 90 für die Existenz zweier Schichten koranischen Materials, bei dem eine ältere, eher friedliche und ermahnende Version von einer jüngeren, drohenden, verdrängt wurde. In dem älteren Teil sieht er einen vorislamischen Text, der den Charakter eines christlichen Hymnus aufweist.

Gerd Puin vertritt anhand einer Untersuchung des jemenitisch-arabischen Alphabets die These, daß sich das klassische Arabisch (die Koransprache) aus einer anderen Sprache und Schrift entwickelte, die er nicht im Hedschas, sondern in Syrien verortet. Im Lichte seines Aufsatzes über ein altsüdarabisches Alphabet schlägt er vor, auch eine Herleitung des „Koranischen“ vom „Haträischen“ anzunehmen, was für die in „Die dunkeln Anfänge“ dargelegte These einer Entstehung des Koran im persischen Exil der Haträer bei Merw sprechen könnte.

Robert M. Kerr arbeitet in seinem Aufsatz die häufig ignorierte vorislamische arabische Geschichte und Schriftkultur heraus, die aufgrund der Fixierung auf den Islam häufig wenig Beachtung findet. Auch er vertritt die These, daß Schrift, Sprache und Orthographie des „Koranischen“ Richtung Syrien und nicht nach dem Hedschas weisen. So kommt er zu dem Schluß, daß es sich beim Koranarabisch um die Arabisierung einer aramäischen Schrift handle.

Christoph Luxenberg beschäftigt sich mit einem weiteren bisher ignorierten Hapax Legomenon (Begriffe die nur einmal auftauchen und daher schwer zu übersetzen sind) in Sure 46 Vers 4 und legt wieder eine alternative und eingängigere Übersetzung vor, zu der er unter Berücksichtigung anderer altorientalischer Sprachen gelangen konnte. Damit stützt er erneut die These, daß der Koran eben nicht in „reinem“ Arabisch verfaßt ist.

Ibn Warraq plädiert in seinem Aufsatz für eine historisch-kritische Methode, die ohne Rücksicht auf die religiösen Befindlichkeiten der Muslime auskommen müsse. Die „geistige Unabhängigkeit“ des Wissenschaftlers stellt für ihn die größte Errungenschaft der Aufklärung dar, die auch dem Islam nicht vorenthalten werden dürfe. Seiner Ansicht nach muß das Ziel darin bestehen, darzustellen, daß der Koran auch eine Textgeschichte hat und damit das Produkt vielfältiger Neu- und Umdeutungen ist.

Abschließend kritisieren Groß und Ohlig die im letzten Jahr erschienenen Koranübersetzungen von Bobzin und Karimi, da diese auch nicht auf das Problem der „dunklen Stellen“ im Text eingehen. Ebenso gehen die beiden Übersetzer auch nicht auf die Problematik ein, daß die ältesten Koranfassungen in defektiver Schrift (also ohne diakritische Zeichen) geschrieben wurden, wodurch sich mehrere Übersetzungmöglichkeiten eröffnen. Statt dessen wurde lediglich die von al-Azhar autorisierte Kairiner Ausgabe von 1924 für die Übersetzung zugrunde gelegt.

Im Vorwort erklären Groß und Ohlig das Ziel des Bandes – und überhaupt der Veröffentlichungen der Inârah-Gruppe – sei, durch ein neues Verständnis der islamischen Geschichte den Weg für ein besseres Miteinander der Kulturen zu ebnen. In akademischer Hinsicht fordern sie nichts weniger als einen Paradigmenwechsel in der etablierten Islamwissenschaft, die sich mehr dem interdisziplinären Austausch öffnen müsse.

Ohne allen Thesen der Inârah-Gruppe zustimmen zu wollen, ist ihnen doch in weiten Teilen bei der Kritik des Universitätsfaches Islamwissenschaft beizupflichten. Vor allem was die thematisierte Periode, die ersten 150 Jahre der islamischen Religion angeht, folgt die Islamwissenschaft relativ blind den islamischen Quellen. Dies liegt auch darin begründet, daß zum Sprachprofil der Islamwissenschaften in erster Linie neben Arabisch noch Persisch und Türkisch gehören (ein Sprachprofil, das in Zeiten von Reformstudiengängen bereits nicht mehr zu halten ist) und damit eine wirkliche vergleichende Untersuchung der Koransprache sowie anderer nichtarabischer Quellen über die frühislamische Geschichte von vornherein ausgeschlossen ist. Hier würde die geforderte Interdisziplinarität Wunder wirken.

Auch die oftmals beschworene Zusammenarbeit mit Kollegen aus islamischen Ländern, die man sich durch zu große Skepsis gegenüber den religiösen Vorstellungen der Muslime nicht verbauen dürfe, bedarf eines zweiten Blickes, wenn man sich das Wissenschaftsverständnis in vielen islamischen Ländern ansieht. Hier ist nicht das Ziel, objektive Erkenntnisse zu gewinnen, sondern die Weisheit der göttlichen Schöpfung darzustellen – von einigen Ausnahmen, wie dem leider zu früh verstorbenen Nasr Hamid Abu Zayd, abgesehen. So können die Publikationen der arabischen Kollegen in weiten Teilen zwar als Quellen für den Umgang muslimischer Forscher mit ihrer Religion dienen, an einem – am westlichen Wissenschaftsverständnis orientierten – Diskurs allerdings nicht teilnehmen.

Gerade heute, wo die Politik die Einrichtung „bekenntnisorientierter“ Islamstudien (ein besserer Begriff wäre „Islamische Theologie) fördert, ist es um so wichtiger, in der bekenntnisfreien Islamwissenschaft die Freiheit zu erhalten und sich auch kritisch mit islamischen Dogmen und islamischer Geschichte auseinanderzusetzen.

Abschließend muß noch festgestellt werden, daß der Sammelband ein Werk für das Fachpublikum darstellt und nicht als Sachbuch geschrieben ist. Dafür sind die Sprachanforderungen (Arabisch, Persisch, Aramäisch, Griechisch), die erfüllt sein müssen, um den Argumenten der einzelnen Autoren zu folgen – und nicht einfach zu glauben, was sie schreiben – einfach zu hoch.

Markus Groß, Karl-Heinz Ohlig (Hrsg.): Die Entstehung einer Weltreligion, Band I. Von der koranischen Bewegung zum Frühislam. Verlag Hans Schiler, Berlin 2010, gebunden, 490 Seiten, 58 Euro

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