© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/11 / 07. Oktober 2011

Der Flaneur
Vor dem Fotoatelier
Ellen Kositza

Der Kunde ist König in dieser Einkaufsstraße: Gleich zwei Filialen des schwedischen Bekleidungshauses für junge Mode; mindestens fünf Buchhandlungen buhlen um die Käufergunst, ebenso viele Schuhläden. Und zwei Fotoateliers, das Schaufenster des einen spiegelt sich in dem des gegenüberliegenden.

Ich warte auf eine Freundin und gucke, was angeboten wird. Ausgestellt sind hier wie dort nackte Väteroberkörper mit Armen, die einen Säugling halten, Schwangerenbäuche in Kerzenlichtatmo-sphäre, Babies mit aufgesteckten Engelsflügeln, Bräute, die auf Wiesen oder in einem Meer von Kissen liegen und den Kopf nach hinten überstreckt halten.

Die Kamera hat ihre bemalten, zum Lachen geöffneten Münder von oben eingefangen. Schulanfänger posieren nach herkömmlicher Geschlechterordnung, ein Junge mit Monsterranzen neben einem schweren Motorrad, eine Schultütenträgerin in rosarotem Blütenmeer.

Ein Paar, möglicherweise kurz vor Eintritt in die zweite Ehe, schwankt unentschlossen zwischen den konkurrierenden Läden. Zum wiederholten Male wird die Straßenseite gewechselt. Ah, hier scheinen sie mehr auf die romantischen Motive zu setzen, dort auf die kessen, ahnt sie. Die werden sich doch sowieso auf unsere Wünsche einstellen, gibt er zu bedenken.

Daß der Unterschied zwischen hüben und drüben ein grundsätzlicher ist, hat die Frau bald erkannt. Das eine Atelier setzt ausweislich der Ausstellware konsequent auf Bildbearbeitung: Was beim benachbarten Laden Haut ist, im ärgsten Fall mit Falte oder Grübchen, erscheint bei der Konkurrenz als nahezu homogene rosigbeige Fläche.

Wir nehmen den hier, entscheidet die Frau. So, sagt sie und weist nach drüben auf die lebensechteren Porträts, so möchte ich nicht aussehen.

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