© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Bilanz eines Wetterleuchtens
„Deutschland schafft sich ab“: Eine Studie des Instituts für Staatspolitik untersucht die Folgen der Debatte um die Thesen Thilo Sarrazins
Fabian Schmidt-Ahmad

Noch bevor abzusehen war, daß das damalige Mitglied des Bundesbankvorstandes, Thilo Sarrazin, zum erfolgreichsten Sachbuchautor der deutschen Verlagsgeschichte werden würde, veröffentlichte das Institut für Staatspolitik (IfS) bereits die Studie der „Fall Sarrazin“ (JF 12/10). Anders als in den medialen Kampagnen zuvor, sahen die Autoren hier den Präzedenzfall, daß weder eine einheitliche Front gegen den Renegaten aufgebaut werden konnte, noch daß das Opfer sozial vernichtet wurde. Eindrucksvoll stellte dies Sarrazin in der Tat vor nun einem Jahr mit seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ unter Beweis.

Anlaß genug für das IfS, in „Ein Jahr nach Sarrazin“ ein erstes Resümee zu ziehen. Das Urteil fällt differenziert aus. Weder gab es einen völligen Dammbruch des Meinungskartells im öffentlichen Raum, noch läßt sich die schiere mediale Präsenz von Sarrazins antiegalitären Thesen, die nach wie vor unwiderlegt sind, ungeschehen machen. Ein Paradoxon, welches die Grauzone einer hochideologisierten Gesellschaft aufzeigt, in der sich die Überzeugungen der tonangebenden Akteure gänzlich von der Erfahrungswirklichkeit entkoppelt haben, und beide nebeneinander fortexistieren.

Die Autoren sprechen hier von einer ideologischen „Deprogrammierung“ und ziehen Parallelen zur DDR, die bis in die Endphase hinein als ideologisch gefestigt erschien: „Fast jeder Umwälzung geht ein Wetterleuchten voraus, das für einen Moment die Szene in gleißendes Licht taucht und die Instabilität des Regimes offenlegt – und damit langfristig vergrößert.“ Dennoch geben die Autoren zu, daß dieser wachsende Unmut über Realitätsverweigerung noch nicht politisch umgesetzt werden kann. In einem eigenen Abschnitt zeigen sie auf, warum existierende Rechtsparteien diese Unzufriedenheit nicht für Wahlerfolge nutzen konnten.

Auch Sarrazin selbst zeigt sich hier noch als ein Anhänger überlebter Überzeugungen: „Eine Partei, die sich ausschließlich dem Thema Zuwanderung und Integration widmen würde, wäre eine Rechtspartei. Und ich möchte keine Rechtspartei in Deutschland.“ Aber auch an ihm ist die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Er habe nun „kapiert, wie die Sowjetunion der Stalinzeit ihre Gefangenen umgedreht und sie zu falschen Geständnissen gezwungen hat: Man muß den Menschen nur lange genug isolieren und immer wieder bestimmten Vorwürfen aussetzen, dann gesteht er am Ende die verrücktesten Dinge.“ Die Isolation wurde durch Sarrazins Buch erstmals ein Stück weit durchbrochen, weshalb dessen bloßer Kauf nicht wenigen bereits als eine politische Handlung erschien. Doch die Selbstorganisation als konsequent nächsten Schritt, diese ist erst allenfalls in Ansätzen zu erkennen.

Institut für Staatspolitik: Ein Jahr nach Sarrazin. Eine Debatte und ihre Folgen. Steigra 2011, 56 Seiten, geheftet, 5 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen