© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Von wegen herzlos und unsensibel
Rußland: Mit seiner Vetopolitik gegenüber einem Vorgehen gegen Syrien erzürnt Moskau den Westen und desavouiert ihn zugleich
Thomas Fasbender

Herzlos und unsensibel, so lautet das Urteil der deutschen Kommentatoren jedesmal, wenn Rußland mit seinem Veto im UN-Sicherheitsrat die Staatengemeinschaft hindert, die Welt ein wenig besser zu machen. Auch die syrische Opposition hält mit: „Gott ist größer als Rußland“ war während der jüngsten Demonstrationen zu lesen.

In einer Medienlandschaft, in der jeder politische Konflikt moralisch eingefärbt wird, kommen Argumente nur begrenzt zu Gehör. Dabei hat Rußland seine Gründe, den Westen vor einem allzu forschen Engagement in Syrien zu bewahren. Anders als häufig unterstellt, spielt geschäftliches Kalkül in dem Zusammenhang noch die geringste Rolle. Syrien mit einem Zwanzigstel der libyschen Ölreserven ist schlicht nicht bedeutend genug. Auch das Interesse am Fortbestand der einzigen russischen Marinebasis im Mittelmeer erklärt nicht das Veto im UN-Sicherheitsrat.

Aufklärung gewährt der Blick nach Libyen, wo aus Moskaus Sicht heute nicht Freiheit und Demokratie herrschen, sondern ein schwelender Bürgerkrieg. In der russischen Außenpolitik, die traditionell Stabilität und Berechenbarkeit schätzt, gilt die Enthaltung bei der Libyen-Resolution im März längst als grober Fehler des amtierenden Präsidenten Medwedew – was nicht zuletzt das Comeback Wladimir Putins befördert hat.

Besonders schmerzt es den Kreml, daß er die westlichen Absichten in Libyen grundlegend falsch eingeschätzt hat. Die russischen Diplomaten waren in der Tat davon ausgegangen, daß es den Westmächten lediglich um die Durchsetzung einer Flugverbotszone ging – und nicht um die Beseitigung des Gaddafi-Regimes. Diese Erfahrung hat Rußland veranlaßt, bei den Verhandlungen zur Syrien-Resolution auf einem festgeschriebenen Gewaltverzicht zu beharren. Daß der Westen, dem das Wort sonst leicht von den Lippen kommt, in diesem Punkt kompromißlos blieb, rechtfertigt aus Kreml-Sicht das russische Veto auch moralisch.

Die russische Diplomatie hat weniger die guten Absichten im Blick als die möglichen Folgen. Gut ein Drittel des syrischen Staatsvolks besteht aus religiösen und ethnischen Minderheiten: Christen, Alawiten, Drusen, Ismailiten, Kurden. Die Zentrifugalenergien sind gespannt. Das Auseinanderbrechen des Staates ist, nicht anders als in Libyen, eine reale Option. Syrien allerdings nimmt mit den Golanhöhen eine geostrategisch ungleich heiklere Position ein.

Aus Moskauer Sicht produziert der Westen im arabischen Raum derzeit unregierte Länder am laufenden Band. Wenn jetzt auch Syrien fällt, bleiben dieser Lesart zufolge nur drei ernstzunehmende Spieler nördlich der Arabischen Halbinsel: Israel, die Türkei und der Iran. Deren gegenseitiges Verhältnis birgt allein schon genügend Potential für Konfrontationen. Je weniger diese drei Länder in eine funktionierende Staatenlandschaft eingebunden sind, um so größer das Risiko einer Zuspitzung der Situation bis hin zu militärischen Aktionen nicht unweit der russischen Grenzen.

Die Position seines Landes hat der russische Außenminister im Grußwort zum jüngsten „Dialog der Zivilisationen“ auf der Mittelmeerinsel Rhodos verdeutlicht: Gewaltlosigkeit beim Streben nach Reform und Modernisierung, ein breit angelegter Dialog der politischen Kräfte und Rücksicht auf die Traditionen und zivilisatorischen Besonderheiten der Region. Und das Ganze ohne fertige Rezepte ausländischer Machart.

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