© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Kolonialisten auf der Anklagebank
Historische Gerechtigkeit: Mario Vargas Llosas neuer Roman „Der Traum des Kelten“ handelt von einem irischen Freiheitskämpfer
Heinz-Joachim Müllenbrock

Ein großartiges Buch und ein Zeugnis schönster Humanität! In Gestalt eines akribisch recherchierten historischen Romans hat der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa der Lebensleistung eines bemerkenswerten Mannes Gerechtigkeit widerfahren lassen, des ins Zwielicht nationaler Empfindlichkeiten gerückten und von der memorierenden Zunft eher stiefmütterlich behandelten Iren Sir Roger Casement.

Der am 1. September 1864 geborene Roger Casement entstammte einer protestantischen Familie aus Ulster. Anfang der 1890er Jahre trat er in den konsularischen Dienst ein und wurde 1902 zum britischen Konsul in Boma nahe der Kongomündung ernannt. In dieser Eigenschaft lernte er die grauenvollen Lebens- und Arbeitsverhältnisse der brutal ausgebeuteten Bevölkerung in dem sogenannten Unabhängigen Kongostaat des belgischen Königs Leopold II. kennen. Die moralische Entrüstung Casements, der zunächst noch an das segensreiche Wirken der Kolonialmächte geglaubt hatte, schlug sich in dem 1904 veröffentlichten Kongo-Bericht nieder, für den er mit einem britischen Orden geehrt wurde.

Um diese Zeit begann Casement zunehmend Anteil an dem kulturellen Selbstverständnis und den politischen Zielen des irischen Nationalismus zu nehmen. Nach seiner Beförderung zum Generalkonsul in Rio de Janeiro im Jahre 1909 wurde er 1910 auf Wunsch des Foreign Office in das Putumayo-Becken im nördlichen Peru entsandt, um die Behandlung der einheimischen Arbeiter durch die Peruvian Amazon Company  – wie im Kongo ging es um das Ernten von Kautschuk – zu untersuchen. Aufgrund dieses neuerlichen, als Blaubuch publizierten und die Öffentlichkeit aufrüttelnden Berichts, der noch horrendere Mißstände als im Kongo offenbarte, wurde Casement 1911 geadelt.

Noch während seiner offiziellen Tätigkeit engagierte sich Casement bereits aktiv in der irischen Unabhängigkeitsbewegung, die – anders als die Home Rule-Befürworter – eine vollständige Loslösung von England erstrebte. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges begab er sich nach Deutschland, wo er sich vergeblich um die Aufstellung einer irischen Brigade aus Kriegsgefangenen bemühte. Im April 1916, kurz vor Beginn des Dubliner Osteraufstandes, von dem deutschen U-Boot U-19 an der Südwestküste Irlands abgesetzt, wo eine deutsche Waffenlieferung erfolgen sollte, wurde er kurz darauf verhaftet. Wegen Hochverrats zum Tode verurteilt, wurde er am 3. August 1916 hingerichtet.

Fürwahr ein schillernder Lebenslauf mit Ambivalenzen, die aber Vargas Llosas menschlich noblem und historisch durchaus vertretbarem Vorhaben keinen Abbruch tun: der Rehabilitierung Casements als eines Vorkämpfers für die Menschenrechte. Der Roman mit dem Titel eines 1898 von Casement verfaßten epischen Gedichts beginnt mit einer Szene im Londoner Pentonville Prison, wo der zum Tode Verurteilte auf die Entscheidung des Asquith-Kabinetts über sein Gnadengesuch wartet, das unter anderem von Sir Arthur Conan Doyle, John Galworthy und G. K. Chesterton unterzeichnet war.

Zu seiner Enttäuschung gehört Joseph Conrad, der den mitfühlenden Casement bei ihrer ersten Begegnung im Kongo 1890 fast vergöttert hatte, nicht zu den Unterzeichnern. Der Roman alterniert zwischen der Enge der als Empathieraum fungierenden fensterlosen Gefängniszelle und der Weite der überseeischen Schauplätze. Aber obwohl er schließlich zum schmachvollen Richtplatz des Pentonville Prison zurückkehrt, führt der Roman letzten Endes aus den Beschränkungen des damaligen mentalitätsgeschichtlichen Umfeldes heraus.

Vargas Llosas historischer Roman ist ein Plädoyer dafür, daß die Geschichte ihr letztes Wort damals noch nicht gesprochen hatte. Aus dem Bewußtseinszentrum des über sein Leben nachsinnenden Gefangenen wandert der Blick in konzentrischen, immer neue dokumentarische Befunde umfassenden Kreisen zu den Schauplätzen von Casements Wirken.

Obwohl der Roman in der dritten Person geschrieben ist, ähnelt er perspektivisch einer fiktionalen Autobiographie, die mit bestürzender Detailfülle darlegt, wie Casements Gewissen angesichts der barbarischen Behandlung der Kolonialvölker provoziert wird. Der Autor wartet mit einem immensen Faktenreichtum auf, doch voreiligen Kritikern, die das bemängeln mögen, sei ins Stammbuch geschrieben, daß die hybride Gattung des historischen Romans ihr unverwechselbares Profil erst durch das organische Zusammenwirken von – verbürgtem – Wissen und Imagination erhält. Daß Casement seine langjährige Tätigkeit unter schwersten, seine Gesundheit ruinierenden körperlichen Belastungen ausübt, verleiht seinem hartnäckigen Nachspüren kolonialer Ruchlosigkeiten menschlich bewegende, nur in der Anschaulichkeit des Romans nachvollziehbare Züge.

Natürlich kam Casements Eintreten für die Menschenrechte den progressiven Neigungen des seine Stimme gern für die Unterdrückten erhebenden Autors entgegen. Doch dessen eigentliches Anliegen war es, durch das Dokumentieren von Casements Wirken eine Gerechtigkeitslücke zu schließen. Dabei setzte er sich zugleich als nationaler Autor in Szene, denn mit der ebenso extensiven wie detailliert-makabren Schilderung der menschenverachtenden Ausbeutung (und Ausrottung) der bestialischen Bestrafungen ausgesetzten Indianerstämme in Putumayo konnte er soziale Anklage mit patriotischen Akzenten versehen.

Das Kapitel „La Amazonía“ ist das mit Abstand längste des Buches und nimmt vielleicht einen überproportional breiten Raum ein. Zahlreiche Wiederholungen, eine enzyklopädische Überfrachtung mit reiner Grundlageninformation und eine den Leser etwas strapazierende didaktische Penetranz in oft holzschnittartigen Dialogen dürfen wohl als verzeihliche Schwächen verbucht werden. Gerade in diesem Teil demonstriert Vargas Llosa, daß in „Der Traum des Kelten“ im Grunde nicht der menschenfreundliche, hochherzige irische Freiheitskämpfer, sondern der kolonialisierende Europäer auf der Anklagebank sitzt.

Trotz einer gewissen Überdehnung des Amazonien-Kapitels – allerdings findet Casements Putumayo-Bericht mittlerweile sogar die Aufmerksamkeit der Wissenschaft – bleibt der Zusammenhang mit der politischen Entwicklung des Helden, wie man den Protagonisten von „Der Traum des Kelten“ aufgrund der Sympathielenkung des Autors nennen darf, im Sinne eines ganzheitlichen biographischen Entwurfs stets gewahrt. Denn Casement realisiert zusehends, daß seiner irischen Heimat durch die Engländer seit Jahrhunderten im Prinzip die gleiche, wenn auch geschickter verdeckte Behandlung widerfährt wie den Eingeborenenterritorien durch ihre Kolonialherren. Sein irischer Patriotismus wird im Herzen Afrikas und im Dschungel Perus entfacht. Die Bauern Connemaras sollte er als „white Indians“ bezeichnen.

„Der Traum des Kelten“ verbindet die dichte Faktizität professioneller Historiographie mit dem anschauungsbildenden Reichtum eines fiktionalen Verfahrens, mittels dessen auch hintergründige Aspekte menschlicher Existenz angemessen ausgeleuchtet werden können. Im Unterschied zu W. G. Sebalds knapper Sachskizze von Casements Engagement in „Die Ringe des Saturn“ (1995) gewährt Vargas Llosas Psychogramm überzeugenden Einblick in die innere Verfassung des irischen Freiheitskämpfers. Es war nicht zuletzt die ungewöhnlich komplexe Persönlichkeit seines mit menschlichen Schwächen geschlagenen Protagonisten, die Vargas Llosa reizte, ein ganzheitliches Porträt Casements zu zeichnen, der wegen seiner homosexuellen Veranlagung zeitweilig fast ein Doppelleben führte.

Der Autor hat Casements homosexuelle Neigungen, die nach Entdeckung der umstrittenen sogenannten „Schwarzen Tagebücher“ von der britischen Regierung publik gemacht wurden, um das Ansehen ihres prominenten Häftlings zu zerstören, ungeschminkt, wenn auch rücksichtsvoll geschildert. Es spricht für den Realismus von Vargas Llosas Geschichtsverständnis, daß Casements heroische Opferbereitschaft für die irische Sache trotz seines proteischen Charakters außer Zweifel steht.

Der selbstbewußt agierende Vargas Llosa spielt die Vorteile seines Genres für die Schilderung der vielschichtigen Lebenswirklichkeit aus. In einer theoretisch aufschlußreichen Szene macht er den über die Paradoxie seines Schicksals nachgrübelnden Casement gewissermaßen zum Sprachrohr seines Gattungsverständnisses.

Casement, der die tollkühne Überfahrt von Deutschland auch deshalb unternommen hatte, um den Ausbruch des ihm aussichtslos erscheinenden Osteraufstandes zu verhindern, aber beschuldigt worden war, eben diesen auslösen zu wollen, fragt sich desillusioniert, ob die Geschichtsschreibung die widerspenstige Wirklichkeit wieder, wie so häufig, verbrämen und rationalisieren werde, um ein didaktisch eingängiges Fazit präsentieren zu können. Durch den Mund seines Protagonisten gibt Vargas Llosa zu verstehen, daß der von einer chaotischen Mischung widerstreitender Faktoren bestimmte Geschichtsablauf eher dem Zufall als dem planenden Willen der historischen Akteure gehorche.

Der Autor von „Der Traum des Kelten“ ist nicht der Versuchung erlegen, der Geschichte unlautere Kohärenz abzuringen. Um so aufmerksamer registriert es der Leser, daß Vargas Llosa den Osteraufstand, dessen patriotischem Appell sich auch Casement nicht entziehen konnte, wie W. B. Yeats in seinem schönen Gedicht „Easter 1916“ als ein tragisches Ruhmesblatt irischer Geschichte darstellt. Mario Vargas Llosa hat den irischen Freiheitskämpfer, dessen in einer Kalkgrube verscharrte Gebeine erst 1965 nach Dublin überführt werden durften und den die Iren längst in ihr nationales Pantheon aufgenommen hatten, gewissermaßen literarisch exhumiert und so neuer, gerechterer Bewertung zugeführt. Der vielfältigen Funktionsgeschichte des historischen Romans hat der peruanische Nobelpreisträger Vargas Llosa damit ein glänzendes Kapitel hinzugefügt.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist Emeritus für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über den englischen Schriftsteller William Golding (JF 38/11).

Mario Vargas Llosa: Der Traum des Kelten. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Suhrkamp, Berlin 2011, gebunden, 448 Seiten, 24,90 Euro

Foto: Geburt der irischen Republik, Gemälde von Walter Paget (1863–1935): Von den Engländern wie eine Kolonie behandelt; Mario Vargas Llosa

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