© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Plädoyer für ein monetäres Völkerrecht
Faules Geld
Wilhelm Hankel

Jede spätmittelalterliche Stadt hatte ihr Waagehaus. Es stand in unmittelbarer Nähe des Rathauses. Dort überprüfte der Eichmeister, eine öffentliche Figur, periodisch und auf Verlangen der Bürgerschaft, Maße und Gewichte der städtischen Handwerker, Kaufleute und Marktfrauen. Denn diese mußten stimmen.

Die Obrigkeit wußte, daß sie dafür verantwortlich war und daß es in einer auf „Treu und Glauben“ beruhenden Gesellschaft auch dafür keinen Ersatz gibt. Der Wohlstand der Stadt, ihr innerer Frieden und ihr Ansehen im Umfeld der Bauern wie in der großen Welt der Kaufleute hingen davon ab, daß ihr Markt seinen Ruf als betrugs- und diebstahlsfreie Zone halten und bewahren konnte. In vielen dieser Städte (Bremen, Riga und andere) symbolisierte diese öffentliche Ordnungsfunktion ein steinerner Roland mit Schwert und Waage.

Im Geldwesen hat diese Eichmeister-Funktion von Anfang an gefehlt. Das „Maß der Maße“, das Geld, entsprach niemals jenem „Ur-Meter“, dem aufgrund des Metermaß-Abkommens von Paris im Jahre 1847 dort hinterlegten Stab aus Platin-Iridium, der seitdem Länge, Einteilung (Zentimeter) und Unveränderlichkeit unserer wichtigsten Meßeinheit vorgibt und überprüfbar macht.

Am Anfang der Geldgeschichte steht der „Betrug“, und was die Sache noch mysteriöser macht: Er ist identisch mit dem „Fortschritt“ des Geld- und Finanzsektors bis auf den heutigen Tag. Laut Herodot verdankte der geniale Erfinder des Münz- oder Zählgeldes, der Lyderkönig Midas, im 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung seinen sagenhaften Reichtum der permanenten „Verwässerung“ seiner Geldstücke. Er reduzierte ihren Edelmetallgehalt, konnte mehr Münzen prägen und befriedigte so die reißende Nachfrage der Wirtschaft nach „seinem“ Geld. Sie brauchte es zur Finanzierung ihres Wachstums. Ihr Interesse galt nicht der Qualität des Geldes, sondern einzig und allein seiner Kurzzeit-Funktion: der Ausweitung des Absatzes, seiner leichten Finanzierung und dem daraus erzielbaren Gewinn.

War das nun Geldbetrug oder geldtechnischer Fortschritt? Midas – erst recht sein Enkel Krösus, der Josef Ackermann seiner Zeit – überwand den überkommenen Geldmangel; er bremste fortan nicht mehr Produktion und Handel. Nicht nur die Wirtschaft riß Midas und seinen Nachfahren das Falschgeld aus der Hand, auch alle Sparer. Den nun konnten sie endlich ihre Vermögensanlage und Alterssicherung vom Risiko physischer Verderblichkeit wie illegaler Verluste befreien: dem in Herden, Scheunen, Äckern oder Häusern angelegten Reichtum. Kühe starben oder konnten geraubt werden, Getreidevorräte verrotteten, Immobilien drohten Konfiskation und Enteignungen.

Geld aus korrosionsfestem Metall konnte leicht vor Räubern, Dieben und Steuereintreibern versteckt werden und die Zeiten überdauern. Entwertung her oder hin: Wie sehr es als sicherer Spargroschen geschätzt wurde, bezeugen die Münzfunde aus der Antike: Sie repräsentieren an der damaligen Wirtschaftsleistung gemessen ein heutiges Billionenvermögen.

Obwohl zu allen Zeiten manipuliert, verfälscht und verkleinert, wurde das monetäre Metermaß niemals aufgegeben oder als nicht fälschungssicher aus dem Verkehr gezogen. Geldwirtschaft und Finanzsektor wurden zur Kraftquelle allen Fortschritts in Technik, Wirtschaft und Gesellschaft, und keineswegs nur im Kapitalismus. Schon zu Beginn des Industrie-Zeitalters identifizierte Adam Smith im Geld- und Finanzwesen das „große Antriebsrad“ des Wirtschaftslebens und seiner Innovationen.

Die Globalisierung der Märkte hat sie in dieser Funktion bestätigt und verstärkt. Es gibt in der modernen Welt neben Naturgütern (Licht, Luft, Wasser) und den Errungenschaften der IT-Technik keinen grenzen- und staatenloseren Sektor als den des Geldes und der Finanzen. Das von den Midas unserer Zeit, dem Finanzsektor, giral, elektronisch und gänzlich stoff- und substanzlos geschaffene Geld unser Zeit und Welt ist das allgegenwärtigste Gut auf Erden. Es beeinflußt alles: die Wirtschaft, die Gesellschaft, unser Privatleben. Und unsere Zukunft. Warum erträgt die Welt diese Diktatur des Geldes und seiner Beherrscher?

Die Antwort ist einfach: Sie bietet beiden Seiten des Geldspektrums zwar unterschiedliche, aber dennoch unschätzbare Vorteile, den Geldproduzenten wie den Geldkonsumenten. Seit Midas Zeiten verführt die Geldproduzenten der mit der Geldherstellung verbundene „Schlagschatz“: der aus der Differenz von Nennwert der Münzen oder Geldscheine zu den Selbstkosten erzielbare Gewinn. Jeder Geldfortschritt hat ihn seitdem gesteigert, seit Geld aus Papier oder Plastik gefertigt und elektronisch in Umlauf gebracht wird, ist er ins Unermeßliche gewachsen. Staat und Finanzsektor teilen ihn sich.

Das erklärt, warum Geld- und Weltgeschichte weitgehend identisch sind. Das Römische Imperium finanzierte jahrhundertelang Limes und Legionen aus den Gewinnen seiner verstaatlichten Münzstätten; es konnte dadurch die unpopuläre Steuerbelastung klein halten. Das Mittelalter, später die absolutistischen Staaten der Neuzeit erweiterten den Schlagschatz durch die Gewinne aus der Papiergeldinflation zu ihren „Seigniorage“-Einkünften, aus denen sie „Luxus, Mätressen und Kriege“ (Werner Sombart) finanzierten. Friedrich der Große machte mit ihnen Preußen zur Großmacht; Englands Beihilfen hätten nie ausgereicht, seine Schlesischen Kriege zu bezahlen. Nach Napoleons Weltkriegen – auch der Korse finanzierte à la Roi de Prusse – übernahmen die mit Ende des 17. Jahrhunderts in Mode gekommenen Zentralbanken das Geschäft. Ihr Notenemissionsmonopol machte sie zu wahren Goldgruben, zuerst nur für ihre privaten Aktionäre, später für den Staat. Die von Bismarck gegründete Deutsche Reichsbank war noch eine Privat-AG, ebenso wie bis heute das ihrem Statut nachgebildete Federal-Reserve-System der USA.

Seit jedoch der US-Dollar nach dem Zweiten Weltkrieg zur Leitwährung der Weltwirtschaft aufgestiegen ist, leben die USA und ihre Bürger dank ihrer modernen Midas-Gewinne ebenso üppig wie skandalös über ihre Verhältnisse. Weil die Welt ihre Währungsreserven in Dollar anlegt, gewähren die armen Länder der Welt den reichen USA einen Konsumkredit. Doch wie lange noch? Und Europa? Es glaubte mit seiner Gemeinschaftswährung, dem Euro, Immanuel Kants „ewigen Frieden“ mit Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ verbinden zu können. Der Euro sollte für alle Welt zum Vorbild werden. Doch dieser Traum ist geplatzt, weil 13 der 17 Euroländer den Euro mit der Entdeckung einer Goldmine oder Erdöl-Bonanza verwechselten. Er wurde für sie zum Blankoscheck, um nach dem schlechten Vorbild der USA kräftig über die eigene Wirtschaftsleistung zu leben und zu konsumieren. Die Rechnung für die daraus resultierenden tiefroten Zahlen ihrer Leistungsbilanzen überließen sie großzügig ihren Währungspartnern zur Begleichung.

Die vier vertragstreuen Euroländer, die mit ihren Überschüssen dafür haften, bürgen und letztlich zahlen sollen: Deutschland, die Niederlande, Finn-land und Österreich dürfen nun ihren Bürgern erklären, warum sie zu Hause sparen sollen, damit sie den Luxus und die Mißwirtschaft ihrer europäischen Nachbarn und Freunde finanzieren können. Sieht so europäische Solidarität aus? Nützt es Europa, seinen Staaten, seinen Bürgern und der großen Idee vom Völkerfrieden, wenn die vier Retter darüber ihre eigene Stabilität und Kreditwürdigkeit verlieren, weil die Ertrinkenden sie erbarmungslos mit in die Tiefe reißen? Oder gibt es andere, sicherere und erprobte Rettungsringe?

Die Antwort führt uns zurück zu Midas. Zweieinhalb Jahrtausende nach ihm wird deutlich, daß sein Rezept, Geldfortschritt durch Geldbetrug zu erreichen, das falsche war und ist. Geld, das monetäre Metermaß, muß genauso fälschungssicher sein wie das physische. Auch der Geldmaßstab muß durch den Eichmeister, die Leute seiner Gewerbepolizei überwacht und geschützt werden. Was ist das für eine Welt, in der die Menschen auf dem lokalen Wochenmarkt vor faulem Obst, Gemüse und Eiern bewahrt werden, aber global nicht vor faulem Geld?

Die sich aufschaukelnde Banken-, Währungs- und Staatschuldenkrise macht wie das Menetekel an den Wänden des Palastes von Babylon aller Welt klar, worum es dringender als je in der Geld- und Weltgeschichte geht: die Schaffung eines monetären Völkerrechts. Nicht Privilegien à la US-Dollar, nicht Gemeinschaftswährungen à la Euro sind angesagt, sondern verbindliche Verträge der großen und kleinen Welthandelsnationen, nicht nur über Investitionen, Zölle und Steuern, sondern über die monetäre Zusammenarbeit zwischen ihnen. Deren Hauptregel sollte lauten: Diese Verträge dürfen um keinen Preis der Welt gebrochen werden, wie die der Europäischen Währungsunion jetzt in der Euro-Krise. Vertragsbruch löst keine Krise, er macht sie endemisch, also zur Dauergefahr.

Als der Bundesfinanzminister seinen Vertragsbruch in Sachen Griechenland vor dem Bundesverfassungsgericht damit rechtfertigte, er habe aus einer Notlage heraus gehandelt, bekam er im Gerichtssaal zu hören: „Not kennt kein Gebot“ ist kein Verfassungsprinzip. Wie wahr! Dadurch wird jedes Vertrauen in die Verläßlichkeit der Vertragspartner und damit ihr friedliches Miteinander zerstört. Am Ende der Vereinbarungen über ein monetäres Welt- und Völkerrecht stünde ein neues Bretton-Woods-System, das die USA seinerzeit für eigene Zwecke mißbrauchten.

In ihm steht jeder Staat für sein eigenes Geld ein, die Leistungsquittung für jedermann. Gerade dadurch, daß jeder Teilnehmer für die Stabilität seines Geldes sorgt und garantiert, entsteht weltweit die bislang fehlende Grundlage für die „Stabilität des Ganzen“ – die Synthese aus Immanuel Kants „ewigem Frieden“ für alle Völker mit Ludwig Erhards Botschaft vom „Wohlstand für alle“ Nationen. Ein Doppelziel, das der krisengeplagten Welt – um es mit dem Dichter zu sagen – „aufs innigste zu wünschen“ wäre.

 

Krise des Kapitalismus

Das marktwirtschaftliche System ist aus der Balance, meinte Lothar Czayka vor einer Woche an dieser Stelle. Der Währungsexperte  Wilhelm Hankel hält faules Geld für eine Hauptursache der Krise und plädiert deshalb für ein monetäres Welt- und Völkerrecht.

 

Prof. Dr. Wilhelm Hankel, Jahrgang 1929, Diplom-Volkswirt, war Leiter der Abteilung Geld und Kredit im Bundeswirtschaftsministerium. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über die globale Finanzkrise („Ökonomie heißt Maßhalten“, JF 19/09).

Wilhelm Hankel (und andere): Das Euro-Abenteuer geht zu Ende. Wie die Währungsunion unsere Lebensgrundlagen zerstört, Kopp Verlag, Rottenburg 2011, gebunden, 252 Seiten, 19,90 Euro. Fünf Professoren sezieren die Euro-Rettungspolitik.

Foto: Der Euro als Midas-Geld: Der sagenhafte Reichtum des Lyderkönigs beruhte auf Münzstreckung

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