© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Rettungsaktion im Chaos des Untergangs
Der Landt-Verlag präsentiert den Augenzeugenbericht des schwedischen Offiziers Åke Svenson, der an der Evakuierung von KZ-Häftlingen 1945 nach Schweden beteiligt war
Karlheinz Weissmann

Zu den merkwürdigsten Details in der Geschichte des untergehenden NS-Regimes gehören wohl die Aktivitäten, mit denen Himmler versuchte, seine politische Stellung über den absehbaren Zusammenbruch hinaus zu retten. Abgesehen von der Irrationalität der Hoffnung, sich den Westalliierten als „Ordnungsfaktor“ im Nachkriegseuropa anzudienen, wirft dieses Vorgehen auch ein Licht auf das komplizierte Ineinander von ideologischer Fixierung und taktischem Kalkül.

Wenn die übliche Vorstellung im Fall des „Reichsführers SS“ bis heute die ist, er habe stets an den „Endsieg“ geglaubt oder sei zum heroischen Untergang entschlossen gewesen, widerspricht dem nicht nur das praktische Verhalten Himmlers bei Kriegsende, sondern auch die Zahl seiner Sondierungsversuche gegenüber dem Feind, die seit 1944 auch dazu führten, daß er die in seinem Gewahrsam befindlichen Gefangenen als eine Art Faustpfand und Tauschobjekt behandelte, das er nutzen wollte, um Zugeständnisse oder Materiallieferungen zu erreichen. Daß die Betroffenen, vor allem die jüdischen KZ-Häftlinge, im Zweifelsfall der „Endlösung“ entkamen, scheint Himmler nicht irre gemacht zu haben, wahrscheinlich muß man sogar davon ausgehen, daß er hoffte, sich den zukünftigen Herren als „Gemäßigter“ präsentieren zu können.

Naturgemäß spielten bei allen Kontaktaufnahmen zwischen den Kriegsparteien die neutralen Staaten eine wichtige Rolle. Das betraf neben Portugal und der Schweiz auch Schweden, das seine ursprünglich eher prodeutsche Haltung längst aufgegeben hatte. Unabhängig von politischen Erwägungen gab es von schwedischer Seite aber auch Interventionsversuche rein humanitärer Art, die mit dem Namen des damaligen Präsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes, Graf Folke Bernadotte, verknüpft sind. Für Bernadotte ging es darum, in Verhandlungen mit Himmler die Freilassung von 17.500 skandinavischen KZ-Häftlingen zu erreichen. Nachdem eine prinzipielle Einigung erreicht war, wurde das Bismarcksche Gut Friedrichsruh, wohin sich die schwedische Botschaft vor den Bombenangriffen auf Berlin zurückgezogen hatte, zum Ausgangspunkt der Aktion. Am 12. März 1945, wenige Wochen vor der Kapitulation, fuhren von hier die „Weißen Busse“ ab, das heißt entsprechend lackierte Fahrzeuge, die zuerst dazu dienten, die Skandinavier, darunter mehrere tausend Juden, aus den verschiedenen Lagern nach Neuengamme zu bringen, das als Sammelpunkt diente, um von dort ihre Weiterreise nach Schweden zu organisieren.

Der jetzt im Landt-Verlag erschienene Augenzeugenbericht von Åke Svenson, einem schwedischen Offizier, der an der Operation führend beteiligt war, und die umfassende Darstellung der Initiative von Folke Bernadotte durch Sune Persson geben einen anschaulichen Eindruck von der Dramatik der Vorgänge. Die war ganz wesentlich zurückzuführen auf die Schwierigkeiten, die sich aus den Gefährdungen im Krieg allgemein ergaben, auf das Chaos eines kollabierenden militärischen und politischen Systems, den Widerwillen der Gestapo- und SS-Leute, deren Unterstützung die Schweden brauchten, die extremen Versorgungsschwierigkeiten, nicht nur im Hinblick auf Lebensmittel und Unterkunft (Neuengamme war rasch überfüllt), sondern auch in bezug auf die medizinische Hilfe für die oft geschwächten oder erkrankten Häftlinge. Im Hintergrund spielten außerdem Streitigkeiten zwischen den schwedischen Stellen und dänischen beziehungsweise norwegischen Behörden eine Rolle, die sich nach der Befreiung ihrer Länder neu gebildet hatten und Mitsprache verlangten. Trotzdem gelang es in einer heroischen Anstrengung, die Weißen Busse mit den Geretteten an die Ostseeküste und von dort per Schiff nach Schweden zu bringen.

Warum sich der Verlag entschlossen hat, die beiden Bücher von Svenson und Persson aus dem Schwedischen übersetzen zu lassen und mit dem Abdruck des sogenannten „Trosa-Memorandums“ von Walter Schellenberg zu verknüpfen, das hier zum ersten Mal dem deutschen Publikum vorgelegt wird, kann man der Einleitung des Historikers Stefan Scheil entnehmen, die auch so etwas wie den Gesamtrahmen der historischen Vorgänge absteckt.

Schellenberg, der in der SS nach 1933 eine rasante Karriere gemacht hatte und als Mitglied der Führung des Reichssicherheitshauptamts schließlich den Auslandsgeheimdienst der SS leitete, war es nach dem Zusammenbruch gelungen, verhältnismäßig glimpflich davonzukommen, da er sich während der Nürnberger Prozesse als Zeuge der Anklage zur Verfügung stellte. Das „Trosa-Memorandum“, das er schon 1945 anfertigte, diente zwar ohne Zweifel der Verteidigung der eigenen Person, bietet aber auch gewisse Aufschlüsse über die Aktivitäten Himmlers in der Endphase des Krieges und ergänzt wegen Schellenbergs direkter Beteiligung an der Operation Bernadottes deren eindrucksvolles Bild.

Der Publikation kommt nicht nur das Verdienst zu, ein fast vergessenes historisches Detail, sondern auch einen bedeutenden Mann wieder in Erinnerung gebracht zu haben. Graf Folke Bernadotte war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, deren Leben bald nach Kriegsende auf tragische Weise endete, als er im September 1948 in Jerusalem dem Anschlag israelischer Terroristen zum Opfer fiel.

Sune Persson, Åke Svenson: „Rettung im letzten Augenblick“ und „Die Weißen Busse“. Landt Verlag, Berlin 2011, broschiert, 780 Seiten, 44 Euro

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