© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Der konservative Pionier der Entschleunigung
Der Germanist Jan Robert Weber hat sich in seiner Dissertation der umfangreichen Reiseliteratur des „Jahrhundertmenschen“ Ernst Jünger gewidmet und entdeckt unerwartete Kleinodien
Michael Böhm

Heinrich Böll ist nur ein Kolumbus in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. 1957 schilderte er in seinem vielgelesenen „Irischen Tagebuch“, wie er auf der Günen Insel einen Hafen besuchte und dort einen „alten Mann“ wahrnahm, „der auf einer steinernen Bank“ vor einer Ruine saß: „Der Mann hätte vor dreihundert Jahren dort sitzen können“, schrieb er, „daß er Pfeife rauchte, ändert nichts an der Vorstellung; mühelos ließen sich Tabakspfeife, Feuerzeug und Woolworth-Mütze ins siebzehnte Jahrhundert transponieren.“

Doch der stillstehende „vormoderne Beharrungsraum“, dem Böll angesichts der bewegten, schnellen Zivilisation der Städte in poetischer Sprache huldigte – er war in Deutschland schon literarisch betreten. Wie Kolumbus, dem „Entdecker der Neuen Welt“, ging auch Böll dem „Entdecker literarischer Langsamkeit“ von 1957, ein Erik der Wikinger voran: Ernst Jünger. Zu diesem Zeitpunkt lag hinter Jünger schon über ein Vierteljahrhundert literarischer „Entschleunigung“; hatte er in seinen Reisetagebüchern aus Sizilien, Norwegen oder Brasilien bereits ausschließlich Refugien der Muße, der Kontemplation und des verminderten Tempos beschrieben – und damit räumliche Utopien entwickelt zu den Zumutungen und Überforderungen der sich rasant verändernden Welt. „Der ferne Anblick der grauen Ringmauer von Korcula mit ihren runden, mächtigen Wehrtürmen“, heißt es etwa in Jüngers „Dalmatinischem Aufenthalt“ von 1934, „steigert das Gefühl der Zeitlosigkeit; man könnte meinen, daß man sich an einem vergessenen Gestade des Mittelalters oder selbst der homerischen Welt befand.“

Diesen Reiseberichten widmet sich die Dissertation von Jan Robert Weber. Sie komplettiert damit das Bild des „Jahrhundertmenschen“ Jünger: Nicht allein weil sie dessen „zivile“ Seite hervorhebt, die bislang der Kriegsschriftsteller und nationalrevolutionäre Publizist in den Schatten stellte; sondern auch, weil es anschaulich Jüngers Wandlung vom revolutionären Aktivisten zum konservativen Ästhetizisten aufzeigt: Denn in seinen Schriften aus den 1920er Jahren, allen voran in „Die totale Mobilmachung“ oder „Der Arbeiter“, redete Jünger noch Beschleunigungsphantasien das Wort, wie sie seit Marinettis „futuristischem Manifest“ von 1909 viele Vertreter der künstlerischen und literarischen Moderne hatten.

Der Untergang der bürgerlich-individualistischen Gesellschaft, den Jünger herbeisehnte, sollte sich vor allem schnell vollziehen: befördert durch die moderne Technik, die in immer mehr Lebensbereiche eindringe; repräsentiert durch den Typus des Arbeiters, der sich anders als der Bürger überall rüste und mobilisiere und getreu Nietzsches Idee von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“, wonach auch künftig in den planetarischen „Werkstättenlandschaften“ alte Hierarchien und Nationen verschwinden und sich neue bilden würden.

Doch seit 1933 erscheint die Vorstellungswelt des Autors wesentlich gebremster. Jünger zog sich kurz nach Hitlers Machtergreifung aus den politischen Auseinandersetzungen zurück. Für ihn waren die Nationalsozialisten – gleichfalls Apologeten des Schnellen – Vertreter des Nihilismus, den er gerade zu überwinden suchte. Bezeichnenderweise beginnt Jünger in den 1930er Jahren eine intensive Reisetätigkeit, die er nahezu bis zum Ende seines Lebens beibehalten sollte. Die intellektuelle Heimatlosigkeit im neuen dynamischen Deutschland ließ den Schriftsteller nunmehr Heimat in Orten suchen, die noch langsam, nicht „durchrationalisiert“ waren und die das vormoderne, bäuerliche Leben schlechthin repräsentierten.

So notiert Jünger in seinem „Dalmatinischen Aufenthalt“, daß die Erinnerung daran nichts weniger als Heimweh hervorrufe; würdigt, daß die Menschen dort noch von „Land und Meer“ leben würden, „Werkstücke durch reine Handarbeit“ entstünden und der Familienvater „auf eigenem Grund und Boden“ sitze und mit der Ehrenbezeichnung „Gospodar“ angesprochen werde. „Mit Behagen tauchten wir in ein patriarchalisches Element“, schreibt Jünger, „wie es bei uns seit Urgroßvaters Tagen verlorengegangen ist.“

Es sind immer wieder die gleichen, konservativen Muster, die Jünger zwischen 1933 und 1945 in seinen Reisebeschreibungen „Urlaub“ von der Diktatur und später vom Krieg nehmen ließen: das Lob eines ruhigen, noch nicht von abstrakten Formen entfremdeten Daseins, der Respekt dafür, daß alte, gewachsene Schichtungen“ noch intakt seien und meditative Betrachtungen über die Natur, die ihrerseits einem „organischen Leben“ huldigen: So gerät für Jünger bei einer Reise nach Norwegen 1935 der Blick auf schneebedeckte Gipfel zum Beweis für die „Korrespondenz unseres Wesens mit der Welt“ und zu kathartischer Wirkung: Es befreit ihn von seinem Weltkriegstrauma, das bis dato sein literarisches Schaffen dominierte.

In seinem 1943 erschienenen Buch „Myrdun“ schreibt Jünger darüber: „So hat die Zeit ihre Spuren in uns niedergeschlagen wie vieljährigen Schnee, in dem Schutt und Geröll und die Bitterkeit von Kriegen und Bürgerkriegen sich anhäuften. Aber wenn Licht in die Schrunden fällt, gehen die Lawinen zu Tal.“ Nach dem Krieg werden diese archaischen „Entschleunigungsinseln“ seltener, bricht über sie moderner Komfort und herein und der anwachsende Massentourismus.

Jünger, der ab 1949 wieder uneingeschränkt reisen konnte und in Sardinien sein vormodernes Paradies fand, konstatiert das schmerzlich, aber nicht hoffnungslos. Denn der große Metaphysiker zweifelte nicht daran, daß der Welt eine tiefe Harmonie innewohne und die Zeiten zyklisch wiederkehren würden. Der Bikini der Damen, über den er sich 1950 ausläßt, ist denn auch „keine Erfindung unserer Zeit“, wie er lakonisch notiert. „Terrakotten und Wandmalereien verraten, daß er bereits in Kreta getragen wurde, längst vor dem Trojanischen Krieg.“

Es ist das Verdienst des Autors, diese metaphysische Seite im Schaffen Jüngers betont zu haben: in einem schönen, erfrischend unakademischen Buch. Es fügt der Biographie Jüngers ein bislang ungeschriebenes Kapitel hinzu: das über einen spirituellen Reiseschriftsteller.

Jan Robert Weber: Ästhetik der Entschleunigung. Ernst Jüngers Reisetagebücher. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2011, gebunden, 525 Seiten, 39,90 Euro

Foto: Fischereihafen von Grindavik: „Segelt denn selig und Sieg geleit euch! / Werd es wie ich wünsche und wehre dem nichts.“ (Das Lied von Atli, Heldensage, Edda)

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