© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/11 / 14. Oktober 2011

Belehrungen für die Mehrheitsgesellschaft
Der gebürtige Türke Zafer Senocak beklagt, daß die fehlende „Willkommenskultur“ der Autochthonen der Integration der islamischen Einwanderer abträglich sei
Detlef Kühn

Türken, die in Deutschland integriert sind, haben den verständlichen Wunsch, andere an ihren Erfahrungen und Überlegungen teilnehmen zu lassen. Kürzlich konnte in dieser Zeitung das Buch der SPD-Politikerin Lale Akgün „Aufstand der Kopftuchmädchen“ vorgestellt werden (JF 12/11). Jetzt gilt es, ein Buch des Schriftstellers und Journalisten Zafer Senocak, geboren 1961 in Ankara und seit 1970 in Deutschland, anzuzeigen. Beide stehen in einem Zusammenhang, auch wenn sie unterschiedliche Adressaten haben.

Akgün wendet sich an die Muslime in Deutschland und erwartet von ihnen, daß sie den Islam modernisieren und damit die Aufklärung des 18. Jahrhunderts nachholen. Von der deutschen Mehrheitsgesellschaft wünscht sie entsprechenden politischen Druck. Senocak ist da ganz anderer Ansicht. Er nimmt die Deutschen direkt ins Gebet, die er auffordert, sich – gerade in Anwendung der Toleranzgrundsätze der Aufklärung – endlich über die muslimischen Einwanderer zu freuen und das auch laut zu sagen. Sonst könnten sich diese in Deutschland nicht wohlfühlen und das Land als Heimat akzeptieren. Muslime aus der Türkei bräuchten sich zudem nicht zu modernisieren. Sie kämen aus dem Land des Kemalismus, in dem seit zwei Generationen die Grundsätze der Aufklärung praktiziert würden. Das ist etwa der Kern seiner Botschaft. Die Deutschen müssen sich ändern, sonst werden sie den Anforderungen der Globalisierung nicht gerecht.

Wie Senocak das im einzelnen darstellt, ist interessant. Er ist zweisprachig aufgewachsen und sprachbegabt. Er liebt die deutsche Sprache wie seine Muttersprache, kann mit ihr subtil umgehen und setzt sie, wie es sich für einen Mann der Schrift gehört, differenziert ein. Als politisch denkender Mensch kann er sich aber auch sprachlich absichern. Er beherrscht die Kunst, eine These prononciert vorzutragen und sie anschließend zu großen Teilen wieder zurückzunehmen, damit er nicht allzu angreifbar wird.

Dennoch hat er an den Deutschen viel auszusetzen: Das deutsche Bürgertum sei unfähig gewesen, „sich in die moderne abendländische Zivilisation zu integrieren“. Dieser „Sonderweg“ habe auch „das deutsche Nationalempfinden in eine Sackgasse“ geführt, wobei dieses Ermahnungsschlagwort nicht ohne Kalkül gewählt wurde. Die „völkische, abstammungszentrierte Grundlage des deutschen Selbstverständnisses“ sei keineswegs überwunden. Auch die Bezugnahme auf den „christlich-abendländischen Kulturkreis“ mißfällt Senocak. Der „tumbe Identitätsentwurf eines christlich-jüdischen Abendlandes“ bezwecke nur die Abgrenzung gegenüber dem Islam.

Die deutsche Einheit 1871 sei „gründlich mißlungen“, das gelte natürlich auch für die von 1990; schließlich gebe es in Teilen Deutschlands No-go-Areas für Menschen mit farbiger Haut. Dem „vielzitierten Verfassungspatriotismus“ fehle „eine emotionale Grundlage.“ Der „platte Spruch ‘Multikulti ist gescheitert’“ verhindere „die Zukunftsfähigkeit Deutschlands.“ Auch der Ausdruck „Parallelgesellschaft“ für das, was sich in Berlin, Duisburg, Frankfurt und anderswo abspielt, mißfällt. Besser hätte man von den „Rändern der Gesellschaft“ gesprochen, sagt er. Aber welcher Berliner Türke will lieber am Rand der Gesellschaft leben als seinem türkischen Kiez?

Senocak fehlt, wie Akgün auch, das Verständnis, daß Aufnahme von Fremden und friedliches Zusammenleben nur dann gelingen, wenn nicht zu viele kommen. Die Deutschen haben immer Menschen anderer Volkszugehörigkeit integriert, nicht nur Juden, über die Senocak besonders gern spricht, weil das Zusammenleben mit ihnen furchtbar endete. Polen, Franzosen, Litauer, Tschechen (Böhmen), auch Engländer, Schotten und andere wurden in großer Zahl integriert, wie man unschwer jedem Telefonbuch entnehmen kann. Die Franzosen (Hugenotten) sind ein gutes Beispiel: Um 1700 stellten sie zwanzig Prozent der Bevölkerung Berlins. Obwohl sie kulturell und wirtschaftlich den meisten Einheimischen überlegen waren, dauerte es keine hundert Jahre, bis sie assimiliert waren. Dann galten ihre Nachkommen aber als die besten Deutschen. Einer von ihnen ist Thilo Sarrazin, dessen Namen Senocak konsequent ignoriert.

Zafer Senocak: Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift. Verlag Körber Stiftung, Hamburg 2011, gebunden, 190 Seiten, 16 Euro

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