© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/11 / 21. Oktober 2011

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Die Ursachen der griechischen Misere sind nach wie vor ungeklärt. Der Archäologe Raimund Wünsche, ein Spezialist für das antike und Kenner des heutigen Griechenland, hat die fehlende Einsicht der Neuhellenen in den Ernst der Lage folgendermaßen zu erklären versucht: „Viele Griechen sind historisch und politisch schlecht informiert. Im Glauben, sie stammen direkt von Sokrates oder Platon ab, sind nicht wenige überzeugt, daß ‘wir’, ‘die Griechen’, es am besten wissen. Und wenn es einmal nicht funktioniert, sind die anderen schuld. Mit solch einer Einstellung kommt man jetzt natürlich ins Schleudern.“ Wünsche hätte vielleicht der Deutlichkeit halber hinzufügen sollen, daß in Griechenland seit dem Altertum ein ethnischer Austausch stattgefunden hat, die Abstammung von Sokrates oder Platon insofern extrem unwahrscheinlich ist, und die Faktoren Geographie und Klima offenbar nicht ausreichen, eine Hochkultur samt Trägervolk hervorzubringen, nicht einmal ein funktionierendes EU-Mitglied.

Bei Lektüre der anerkannten Autoren politischer Theorie die immergleiche Überraschung: genau der Unsinn, den man erwartet.

Vor einigen Jahren beunruhigte Japan „die Generation, die auf dem Boden sitzt“. Ältere nahmen mit Irritation zur Kenntnis, daß Jüngere etwas taten, was man für ganz und gar ungezogen hielt: sie hockten auf Gehwegplatten, setzten sich auf Bordsteine und lagerten auf öffentlichen Plätzen. Nach Meinung des Verfassers wäre es hierzulande nötig, über „die Generation, die sich beim Schuheschnüren nicht bückt“, zu sprechen. Jedenfalls fällt unangenehm auf, mit welcher Selbstverständlichkeit Halb- oder Ganzerwachsene ihre Schuhe auf Sitzflächen – auch gepolsterte, auch solche, die ihnen nicht gehören – stellen, um bequemer an ihre Senkel zu kommen. Abgesehen von hygienischen Aspekten beunruhigt der Vorgang als Indiz des allgemeinen Verfalls.

Dieter Bartetzko hat im Hinblick auf den bevorstehenden Abriß der Frankfurter Degussa, eines repräsentativen Baus der NS-Zeit, auf den Figurenschmuck an der Außenseite hingewiesen, der einen Arbeiter zeigt, mit Metallstück, das im Feuer schmilzt, was, so Bartetzkos Feststellung, ganz und gar nichts mit modernen Produktionsvorgängen zu tun habe, für die die Degussa, die „Deutsche Gold- und Silber-Scheide-Anstalt“, im Grunde ein Spezialchemieunternehmen, stand; derlei, so Bartetzko, habe nur „das paradoxe Ideologem bekräftigt, die NSDAP vollziehe eine konservative Revolution“. – Man möchte so etwas eigentlich nicht mehr lesen oder wenigstens ergänzt um den Hinweis, daß Anachronismen zu jeder erfolgreichen Emblematik gehören, das Volksfront-Frankreich hat sich ihrer genauso bedient wie die Sowjetunion der dreißiger Jahre oder Roosevelts USA, man denke nur an die Popularität von Grant Woods „American Gothic“ oder Norman Rockwells Illustrationen, die für die amerikanische Propaganda eine so wichtige Rolle spielten, und technisch veraltet waren schon die Zeremonialkeule der Pharaonen und das Sichelschwert mit ausgezackter Schneide, das die zentralafrikanischen Loango als Würdenzeichen trugen.

Der Volkstod der alten Griechen hatte verschiedene Ursachen, aber doch vor allem Gründe der Demoralisierung. Der Historiker Polybios, der zu einer Gruppe von Achäern gehörte, die wegen ihres Widerstands gegen die römischen Eroberer deportiert worden waren, schrieb über die Entwicklung in seiner Heimat: „Zu meiner Zeit litt ganz Griechenland an Kinderlosigkeit und überhaupt an Bevölkerungsrückgang (…), obwohl wir weder von längeren Kriegen noch von ansteckenden Krankheiten heimgesucht wurden. Die Menschen sind in Trägheit, Geldgier und Vergnügungssucht verfallen, sie wollen nicht mehr heiraten, oder, wenn sie es tun, nicht die ihnen geborenen Kinder aufziehen, sondern nur eins oder zwei, um diese reich zurückzulassen und in Üppigkeit aufwachsen zu lassen (…) So ist binnen kurzem das Unglück unbemerkt groß geworden.“

Erziehen heißt Widerstand leisten.

Was die Sache mit dem Schuheschnüren betrifft, werde ich den Verdacht nicht los, daß ein Zusammenhang mit der schon länger beobachtbaren Übung besteht, in aller Öffentlichkeit die Füße hochzulegen. Der Verdacht ist verknüpft mit Schuldbewußtsein, das mich befällt, in Erinnerung an eine junge Dame, die vor einigen Jahren, in meinem Wohnzimmer, mir gegenübersitzend, unschuldig lächelnd und nicht ohne Anmut, ihre Schuhe abstreifte, um es sich im Sessel bequemer zu machen. Mir will der Gedanke nicht aus dem Kopf, daß damals den Anfängen noch zu wehren war und ich vor der katechontischen Aufgabe versagte.

Man kann Linke und Rechte problemlos unterscheiden anhand der Anfänge, derer sie wehren.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 4. November in der JF-Ausgabe 45/11.

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