© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/11 / 21. Oktober 2011

Lockerungsübungen
Angst vor einem Präzedenzfall
Karl Heinzen

Die frühere ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko ist von einem Kiewer Gericht für schuldig befunden worden, während ihrer Amtszeit rechtswidrig einen für ihr Land nachteiligen Gaslieferungsvertrag mit Rußland auf den Weg gebracht zu haben. Der Schaden wird auf 137 Millionen Euro beziffert, entsprechend hoch ist die Geldstrafe, die die Verurteilte zu begleichen hat. Zudem soll Timoschenko eine siebenjährige Haftstrafe antreten und nach deren Verbüßung drei weitere Jahre lang kein öffentliches Amt bekleiden dürfen.

Immerhin dürfte die Ikone der „orangefarbenen Revolution“ von 2004 durch die Geldstrafe nicht allzusehr zu beeindrucken sein, wird doch ihr Privatvermögen auf mehrere hundert Millionen Euro geschätzt. Dieses hat sie dem Ende des Sozialismus zu verdanken, gelang es ihr doch im Zuge der im Westen als Aufbruch zu Demokratie und Marktwirtschaft verstandenen Überführung des Volksvermögens aller in die Hände einiger weniger, ihre Chance zu nutzen. Die Glaubwürdigkeit, die sie sich im Anschluß an ihre Unternehmerkarriere auf politischem Terrain dank ihres leidenschaftlichen Engagements gegen den Machtmißbrauch finsterer Oligarchen erworben hat, ist zumindest im Ausland so groß, daß sie nicht einmal durch Bestechungs- und Veruntreuungsvorwürfe oder ihre bis Ende 2004 währende Nennung auf Fahndungslisten von Interpol angekratzt werden konnte. All dies dürfte im Westen vielmehr als Indiz dafür gewertet worden sein, daß die politische Kultur der Ukraine der eigenen näher gekommen ist.

Die lautstarke Kritik, der das Urteil gegen Timoschenko nun in zahlreichen europäischen Hauptstädten ausgesetzt ist, speist sich aber nicht nur aus der Sympathie für eine Geistesverwandte, und sie ist auch nicht bloß Ausdruck eines Unbehagens, daß ein Gericht in Kiew es gewagt haben könnte, Weisungen der eigenen Regierung und nicht jenen aus Brüssel zu folgen. Es ist vielmehr die Angst zu spüren, daß womöglich ein Präzedenzfall geschaffen worden ist. Insbesondere der deutsche Außenminister hat hier Nerven gezeigt, was vor dem Hintergrund aktueller Entscheidungen verständlich ist. Sollte er für die von ihm als Kabinettsmitglied mitgetragenen Beschlüsse zur „Euro-Rettung“ gerichtlich belangt werden, dürfte ihm ein Schadensersatz kaum möglich sein.

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