© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/11 / 21. Oktober 2011

Nicht gekommen, um zu bleiben
Vor fünfzig Jahren unterzeichneten die Bundesrepublik und die Türkei das Anwerbeabkommen für türkische Arbeitnehmer
Curd-Torsten Weick

Hineingestolpert in das deutsch-türkische Anwerbeabkommen im Jahr 1961 ist die junge Bundesrepublik sicher nicht. Fußend auf den jahrzehntelangen guten Beziehungen beider Nationen, die unter Kaiser Wilhelm II. begannen und auch den Zweiten Weltkrieg überdauerten, wurde deren Fundament viel früher gelegt. Die beiden Nato-„Frontstaaten“ saßen im selben Boot und ergänzten sich prächtig. Getragen von der auf beiden Seiten gepflegten Rückbesinnung auf die alte „Waffenbrüderschaft“ hatte sich über die Jahrzehnte hinweg eine spezielle deutsch-türkische Erbfreundschaft (JF 39/05) entwickelt, die für die deutsche Außenpolitik eine Ausnahme bildete  – die aber auch zunehmend die deutsche Innenpolitik beschäftigen sollte.

Bereits im Jahr 1951 knüpfte Bonn – unter enger Abstimmung mit der Führungsmacht USA – als Unterstützer des „kranken Mannes am Bosporus“ an die Traditionen an und übernahm im Rahmen westlicher „Türkeihilfe“ atlantische Verantwortung. Bonn gab Hermes- Bürgschaften, organisierte internationale Finanzkredite und -hilfen und war ein strikter Fürsprecher einer EWG-Assoziation mit der Türkei (Antragstellung 31. Juli 1959).

Kein Wunder also, daß die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei zu Beginn der fünfziger Jahre ihren Staatsangehörigen, auf der Grundlage voller Gegenseitigkeit, die Einreise ohne Sichtvermerk in ihr Gebiet zubilligten (Abschluß deutsch-türkisches Sichtvermerk-abkommens am 30. September 1953). Außer Frage stand dabei, daß es sich in erster Linie um eine partnerschaftliche Geste handelte, die in den Folgejahren ohne Konsequenzen blieb. So betrug die türkische Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland noch im Jahr 1960 um die 3.000 Personen.

Diese Sachlage sollte sich zu Beginn der sechziger Jahre verändern. Aufgrund der Tatsache, daß sich die Bundesrepublik in einer Phase der Hochkonjunktur befand – die Unternehmen drängten, denn die Zahl der offenen Stellen im Baugewerbe und der Metallindustrie übertraf bei weitem die Zahl der Arbeitssuchenden – und vor dem Hintergrund des Mauerbaus, der ab August 1961 den Zustrom von Arbeitskräften aus der DDR versiegen ließ, kam es zum Abschluß des „Deutsch-türkischen Abkommens über die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer“ (30. Oktober 1961).

Wieder trafen die drei Stränge, die die deutsche Türkeipolitik seit zehn Jahren prägten, aufeinander. Die von Landflucht und Wirtschaftsmisere geplagte Türkei bat um „Entlastung“, Deutschland gefiel sich in seiner bilateral-multilateralen Unterstützerrolle, und die USA betrachteten den Export von Arbeitskräften mit Wohlwollen.

Obwohl es zum damaligen Zeitpunkt keinem Verantwortlichen in den Sinn kam, ein weitreichendes Zeichen gesetzt zu haben, kann die Unterzeichnung dieses Abkommens als Wendepunkt in der bisherigen deutsch-türkischen Geschichte betrachtet werden.

Zwar gab es einzelne Widerstände, doch das federführende Auswärtige Amt wischte die Kritik des Bundesministeriums für Arbeit und der Gewerkschaften beiseite. So berichtet die Karlsruher Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Heike Knortz in ihrer 2008 erschienenen Studie „Diplomatische Tauschgeschäfte – ‘Gastarbeiter’ in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953–1973“, daß sich das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) unter Leitung des CDU-Politikers Theodor Blank kritisch über das Ansinnen der türkischen Militärregierung (August 1960) geäußert habe, ein Anwerbeabkommen abzuschließen. Demnach war das BMA „‘nicht unbedingt’ von den Vorteilen einer solchen Vereinbarung überzeugt, da ein nicht unüberheblicher Teil der in die Bundesrepublik eingereisten Arbeitnehmer die Dienste der mit den Anwerbevereinbarungen institutionalisierten Kommissionen erfahrungsgemäß gar nicht in Anspruch nehme.“ Parallel dazu, so Knortz, habe auch die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung  (BA) trotz des herrschenden Arbeitskräftemangels „keine Notwendigkeit“ für ein Anwerbeabkommen mit der Türkei gesehen, „da der Kräftebedarf in anderen Anwerbeländern ‘hinreichend gedeckt’ werden könne.“

Sybillinisch verwies daraufhin BA-Präsident Anton Sabel auf das Spannungsfeld zwischen Innen- und Außenpolitik, bei dem letztere die Oberhand behielt. Hinsichtlich des Wunsches der Türkei auf ein Anwerbeabkommen  könne er, so Knortz, „nicht beurteilen, ‘wie weit sich die Bundesrepublik einem etwaigen solchen Vorschlag der türkischen Regierung verschließen kann, da die Türkei ihre Aufnahme in die EWG beantragt hat und als Nato-Partner eine nicht unbedeutende politische Stellung einnimmt’“.

Doch die mahnenden Worte verhallten, und noch Mitte der 1960er Jahre, die Zahl der Türken in Deutschland hatte sich auf 160.000 (1966) erhöht, wurde das Abkommen von der Regierung Kurt Georg Kiesinger (CDU) mit ausdrücklichem Wohlwollen begleitet. Hierbei  unterstrichen sowohl der Staatssekratär im Auswärtigen Amt, Karl Carstens, als auch Kanzler Kiesinger selbst zwei Aspekte: Erstens wurde die „menschliche Begegnung auf breitester Ebene“ begrüßt und als „wesentlicher Schritt zur immer weiteren Vertiefung der traditionellen Freundschaft“ willkommen geheißen. Positiv wurde insbesondere vermerkt, daß die türkischen Arbeitnehmer nicht nur zur Steigerung des bundesdeutschen Sozialprodukts, sondern überdies durch die Überweisung ihrer Ersparnisse in die Türkei, wesentlich zur Entlastung der türkischen Zahlungsbilanz beitragen würden.

Zweitens war klar ersichtlich, daß man die türkischen „Gastarbeiter“ als vorübergehendes Phänomen betrachtete. So zeigte man sich sicher, daß die türkischen Arbeitskräfte ihre technischen Kenntnisse in Deutschland derart „erweitern und ergänzen“ würden, daß sie „bei ihrer Rückkehr in die Heimat eine gut ausgebildete Mannschaft für die inzwischen errichteten Industrien der Türkei stellen“ könnten. Darüber hinaus hatte Bonn die Hoffnung, daß die Gastarbeiter nach ihrer Rückkehr in die Heimat eine gute Erinnerung an die Zeit in Deutschland bewahren würden.

Da die Arbeitsverwaltung in den ersten Jahren nach einem Rotationsprinzip, das den langfristigen Aufenthalt der Türken in Deutschland vermeiden sollte, verfuhr, kam diese offizielle Sichtweise der Dinge nicht von ungefähr. Doch nachdem das Rotationsprinzip auf Drängen der Arbeitgeber, die nicht immer wieder neue Leute anwerben und anlernen wollten, Ende der 1960er Jahre aufgegeben wurde, sollte sich die Situation langsam wandeln. Gab es bis dahin keine Gastarbeiterfrage, so wurde sie spätestens im Jahr 1973 – die Zahl der Türken in der Bundesrepublik hatte sich mittlerweile auf 910.000 erhöht – aufgeworfen.

Vor dem Hintergrund von Ölkrise und Rezession wurde daraufhin am 23. November 1973 ein Anwerbestopp für Arbeitnehmer, die nicht aus Ländern der EG kamen, verfügt. Begründet wurde diese Maßnahme unter anderem aufgrund hoher sozialer Kosten, die sich durch die zunehmende Arbeitslosigkeit türkischer Arbeitnehmer ergab.

Nachdem sich die Zahl der türkischen Wohnbevölkerung im Anschluß an den Anwerbestopp jedoch nicht vermindert, sondern nach einer einjährigen Stagnation wiederum vermehrt hatte, war es nur allzu offensichtlich, daß sich das Gastarbeiterproblem in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre verfestigt hatte. Ursächlich hierfür war, daß nach der Rücknahme des Rotationsprinzips und infolge des Anwerbestopps aus den Gastarbeitern de facto Einwanderer geworden waren. Beide Faktoren begrenzten die Fluktuation türkischer Arbeitskräfte, forcierten deren Bleibewillen und vitalisierten die Familienzusammenführung.

Ende der 1970er Jahre, die Zahl der in der Bundesrepublik lebenden Türken betrug im Jahr 1979 1,2 Millionen, betrachtete die sozial-liberale Bundesregierung die Situation dann unter einem völlig anderen Blickwinkel als noch zehn Jahre zuvor. Der Sichtweise Kanzler Helmut Schmidts zufolge war man nun an einer Weggabelung angelangt. Zwar gab auch Schmidt anläßlich einer Tischrede zu Ehren des türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit während dessen Deutschland-Besuchs (Mai 1978) und vor einem DAG-Kongreß (Juni 1978) unmißverständlich zu erkennen, daß sich die türkischen Bürger „Anerkennung und Sympathie“ verdient hätten, da sie nicht nur einen „wichtigen Beitrag“ zur Volkswirtschaft der Bundesrepublik beitragen würden, sondern ebenso mittels Überweisung eines Teils ihrer Einkommen in die Türkei zu deren wirtschaftlicher Stabilisierung beitragen würden. Es kam jedoch nicht umhin, die Problematik der ausländischen Arbeitnehmer zu unterstreichen.

In diesem Kontext ließ Schmidt einerseits verlauten, daß den Möglichkeiten des deutschen Arbeitsmarktes „zur Zeit enge Grenzen gesetzt“ seien – ein weiterer Zuzug also nicht verkraftbar sei. Andererseits machte er darauf aufmerksam, daß mittlerweile „ein Problem aufgetaucht“ sei, das man „damals nicht gesehen“ hatte, „als man aus arbeitsmarktpolitischen Gründen sehr freizügig viele Menschen“ in die Bundesrepublik geholt hatte. Unter Hinweis auf die integrationspolitischen Probleme fuhr Schmidt fort: „Vor uns steht die Anpassung unserer Gesellschaft an neue Probleme, zum Teil an solche, die niemand von uns so recht vorhergesehen hat. Wer von uns hat 1968 oder 1969 oder 1970, als die vielen ausländischen Arbeitnehmer hereingeholt wurden, gesehen, daß wir heute vor dem Problem stehen würden, uns wirklich entscheiden zu müssen, daß diejeinigen die hierbleiben wollen, bei uns nicht nur auf dem Papier volle Bürgerrechte bekommen müssen, sondern daß wir für ihre Kinder in jeder Stradt, in der sie leben, dieselben Ausbildungseinrichtungen, dieselben Bildungschancen schaffen müssen, wie sie nach dem Grundgesetze für alle gleich sind. Das bringt praktische Bewältigungsprobleme mit sich.“

Foto: Eintreffen der ersten türkischen Gastarbeiter am 27. November 1961: 55 türkische Bergleute kommen in Düsseldorf an. Sie sind die ersten von 400 Kumpels, die sich zur Arbeit in Deutschland verpflichtet haben

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