© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/11 / 28. Oktober 2011

Lockerungsübungen
Bedrohung globaler Stabilität
Karl Heinzen

Michel Barnier will das Treiben der Rating-Agenturen nicht mehr bloß kritisieren. Die Zeit, ihnen aktiv in den Arm zu fallen, ist nach seiner Auffassung gekommen. Wie dies im einzelnen aussehen soll, wird er als EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen voraussichtlich Ende November präsentieren. Vorab ließ er jedoch bereits durchblicken, was ihm vorschwebt: Wenn man zu dem Schluß käme, daß ein Rating nicht sinnvoll sei, möge man es doch für einen bestimmten Zeitraum einfach aussetzen. Mit der neuen Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA verfüge die EU über eine Institution, die das Verbot, für europäische Krisenstaaten ungünstige Bewertungen zu veröffentlichen, kompetent aussprechen könne.

Da Barnier Franzose und Gaullist ist, dürfte sein Vorstoß in erster Linie chauvinistische Motive haben, und in der Tat haben sich die Rating-Agenturen Moody’s sowie Standard & Poor’s in jüngster Zeit derart despektierlich über die Grande Nation geäußert, daß eine Retourkutsche unvermeidlich wurde. Zudem müssen sie aus der Sicht des EU-Kommissars natürlich daran gehindert werden, die Wiederwahlaussichten seines Parteifreundes Nicolas Sarkozy weiter zu schmälern.

Allerdings dürfte Barniers Groll nicht nur von Franzosen geteilt werden. Nahezu alle EU-Mitgliedstaaten sind heute so hoch verschuldet, daß jede Herabsetzung ihres Ratings ihre Zinsbelastung dramatisch erhöht. Anders als Privatpersonen oder Unternehmen, die Anbietern von Bonitätsauskünften hilflos ausgeliefert sind, vermögen Staaten sich gegen diese zur Wehr zu setzen. Sofern sie in ihrem Machtbereich angesiedelt sind, können die nationalen Regierungen beispielsweise die rechtlichen Rahmenbedingungen ihres Wirkens manipulieren. Diese Option scheidet jedoch bei den drei Rating-Agenturen von globaler Relevanz aus, da sie allesamt in den USA beheimatet sind. Falls eine wirksame Abschottung des europäischen Informationsraumes gegen ihre Veröffentlichungen nicht möglich sein sollte, muß die EU auf Washington Druck ausüben, um sie zum Schweigen zu bringen, geht doch von Rating-Agenturen eine weitaus größere Bedrohung der globalen Stabilität aus als von terroristischen Organisationen. Wo al-Qaida & Co. nur Nadelstiche setzen können, vermögen Moody’s & Co. schließlich ganze Staaten wie Kartenhäuser zum Einsturz zu bringen.

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