© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/11 / 28. Oktober 2011

Zurück zum Rheinischen Kapitalismus
Zähmt das Raubtier
von Jost Bauch

Der Kapitalismus steckt weltweit in der Krise und viele fragen sich, ob dieser überhaupt noch eine Zukunft hat. Und: Wenn er keine Zukunft hat, was kommt danach? Kündigt sich vielleicht doch eine neue Form des Sozialismus an und die Prognosen marxistischer Provenienz bewahrheiten sich doch? War der Sowjetkommunismus vielleicht nur ein historisches Vorspiel?

Bevor wir uns auf derartige Spekulationen einlassen, betrachten wir die Krise des gegenwärtigen Kapitalismus etwas genauer. Wenn man der Marxschen politökonomischen Analyse folgt, so verläuft die Entwicklung des Kapitalismus in Zyklen. Auf Aufschwungphasen folgen Abschwungphasen. Der Kapitalismus produziert in schöner Regelmäßigkeit Überproduktions- und Reinigungskrisen.

Da weitgehend für einen anonymen Markt produziert wird, „hat der Kapitalismus die Tendenz, die Produktion in unbegrenztem Maße auszuweiten“ (Ernest Mandel). Er produziert über den gesellschaftlichen Bedarf hinaus, die Produkte finden irgendwann keine Abnehmer mehr. Es kommt zur „Marktbereinigung“, weniger konkurrenzfähige Anbieter verschwinden vom Markt, Arbeitsplätze werden vernichtet, die Nachfrage sinkt. Eine gesamtgesellschaftliche ökonomische Rezession ist die Folge. Diese Abfolge von Boom und Baisse ist der Logik der Kapitalentwicklung inhärent, es ist im Marxschen Sinne ein Grundgesetz in der Verlaufslogik des Kapitalismus.

Der moderne Kapitalismus hat gegen dieses Entwicklungsgesetz Mechanismen ausgeprägt, um die Ausschläge im ökonomischen Prozeß zumindest abzumildern. Diese Mechanismen bestehen im wesentlichen darin, eine staatlich induzierte, künstliche Nachfrage durch eine von dem Ökonomen John Maynard Keynes (1883–1946) entwickelte antizyklische staatliche Nachfragepolitik zu schaffen. Der Staat macht nach diesem Modell in Krisenzeiten Schulden und stimuliert die Nachfrage, um dann in Boom-Zeiten über sprudelnde Steuereinnahmen seine Schulden begleichen zu können. Soweit die Theorie.

In der Praxis hat der Staat seine Schulden auch in besseren ökonomischen Situationen nicht zurückgezahlt, sondern aufgetürmt. Ergebnis dieses Staatsinterventionismus ist die europaweite horrende Staatsverschuldung, mit der wir heute zu kämpfen haben. Insofern ist die Euro-Krise von heute im weitesten Sinne eine „verschleppte Reinigungskrise“ des Kapitalismus. Die Euro-Einführung hat das Schuldenmachen des Staates insbesondere in den Südländern des Euro-Raumes noch beflügelt, als diese durch dem Euro geschuldete geringere Zinssätze geradezu animiert wurden, schuldenmäßig kräftig hinzulangen. Die Krisenträchtigkeit des Kapitalismus wurde in den 1990er Jahren mit dem Wegfall der sozialistischen Systemkonkurrenz noch gesteigert. Der Kapitalismus radikalisierte sich, im Zuge der zunehmenden Globalisierung konnte das Kapital grenzenlos operieren, es konnte nationalstaatliche Restriktionen aushebeln, es konnte durch Wanderung zu den profitabelsten Standorten die Profitrate erhöhen und als Finanzkapital weltweit vagabundieren.

Der nationalstaatlichen Kontrolle – und damit letztlich politischer Kontrolle – ist es damit weitgehend entzogen. Infolge der zunehmenden Dominanz des Finanzkapitals steigt die Wahrscheinlichkeit des krisenhaften Oszillierens zwischen Boom und Baisse, weil weitgehend auf kurzfristige Spekulationsgewinne gesetzt wird, die sich schnell als „Blasen“ erweisen – wie die amerikanische Immobilienblase des Jahres 2007 – und keinen realwirtschaftlichen Hintergrund reflektieren.

Michel Albert, ehemaliger Präsident der französischen Versicherungsanstalt Assurances générales de France (AGF), hat in seinem viel zu wenig beachteten Buch „Kapitalismus contra Kapitalismus“ aus dem Jahre 1992 zwei verschiedene Formen des Kapitalismus identifiziert: den angloamerikanischen Kapitalismus des schnellen Geldes und der Rendite-Maximierung und den Rheinischen Kapitalismus der Bundesrepublik bis zu den 1980er Jahren, der auf langfristige Amortisierung, Produktionsorientierung und nachhaltige Entwicklung ausgelegt war.

Der angelsächsische Kapitalismus beruht auf der Vorherrschaft des Aktionärs, dem kurzfristigen Gewinn und dem individuellen finanziellen Erfolg, der Rheinische Kapitalismus beruht auf der langfristigen Sorge und dem Vorrang des Unternehmens als einer Gemeinschaft, die Kapital und Arbeit verbindet. Obwohl, wie die Erfolgsgeschichte der „alten“ Bundesrepublik zeigt, der Rheinische Kapitalismus dem angelsächsischen in allen Belangen überlegen war, hat sich im Rahmen der Globalisierung das angloamerikanische Modell durchgesetzt.

Das amerikanische Modell hat sich durchgesetzt, weil es einen Pakt mit den Medien geschlossen hat: Die Wall Street und Hollywood liegen eng beeinander, Finanzakrobaten sind die neuen Helden des Wilden Westens. Wie Albert schreibt, lieben die Medien die halsbrecherische Transaktion und die feindlichen Übernahmen, hier gibt es viele „Stories“ von flammenden Helden und tragischen Abstürzen zu holen. Der wesentliche Unterschied zwischen dem angelsächsischen und dem Rheinischen Kapitalismus liegt in der Philosophie des „Geldmachens“. Der Rheinische Kapitalismus ist dabei realwirtschaftlich orientiert: Produkte werden erfunden, produziert und verkauft.

Die Finanzwirtschaft hat dabei eine dienende Funktion für die Realwirtschaft. Beim angloamerikanischen Modell geht es dagegen nur um Kaufen und Verkaufen; zwischen Kauf und Verkauf steht alleine der Spekulationsgewinn, eine Auswirkung auf die Realwirtschaft muß nicht gegeben sein. Akio Morita, in den 1990er Jahren Generaldirektor von Sony, skizziert den Unterschied zwischen Amerika und Japan in der Unternehmensphilosophie: „Die Amerikaner machen Geld mit Fusionen und Akquisitionen, haben aber keine Ahnung davon, wie man neue Produkte produziert. Während wir auf zehn Jahre planen, interessieren sie sich nur für den Gewinn, den sie in den nächsten zehn Minuten machen können. Dadurch ist aus der amerikanischen Wirtschaft eine Phantomwirtschaft geworden.“

Der Industrie-Kapitalismus degeneriert zum „Casino-Kapitalismus“ (Hans-Werner Sinn). Das Finanzkapital, das im Zeitalter des Imperialismus, so Rudolf Hilferding in seinem 1927 herausgegebenen Werk, mit den Nationalstaaten paktierte, wendet sich nunmehr gegen den Nationalstaat. Zentralbanken und Finanzminister werden zunehmend von den internationalen Finanzbewegungen abhängig. Diese „können auf die großen Variablen der Wirtschaft (Steuerwesen, Zinsen, Geldmenge) nicht mehr mit derselben Freiheit reagieren“ und geraten in die Geiselhaft einer „unproduktiven Börsenguerilla“ (Albert), die mit „junk bonds“, mit Derivaten, Termin- und Optionsgeschäften das schnelle Geld machen will.

Die Wirtschaftspolitik wird den Launen der Wall Street völlig untergeordnet, „die Börsenreaktion auf ein Ereignis wird wichtiger als das Ereignis selbst. Ob die Exporte zurückgehen oder die Produktion stagniert, ist nicht mehr ein Problem an sich. Was Sorgen bereitet, ist die Reaktion des Marktes darauf“ (Albert). Die Unternehmen selbst werden zu einer „Cash-flow-Maschine“.

Die rheinische Unternehmensphilosophie, daß man es akzeptieren muß, Verluste zu erleiden, bevor man erste Gewinne einfahren kann, gilt nicht mehr. Unternehmen werden wie Zitronen ausgepreßt. Die Deregulierung der Wirtschaft und der Finanzmärkte ermöglicht „feindliche Übernahmen“, eine fatale und für die einzelnen Unternehmen gefährliche Entwicklung. Dienten Fusionen dazu, einen Konzern zu vergrößern und zu stärken, so will man durch feindliche Übernahmen ein Unternehmen zerstückeln und die verschiedenen Abteilungen mit Gewinn verkaufen.

Mit großer Bewunderung spricht der Franzose Albert vom Rheinischen Kapitalismus, einer Lektion aus Deutschland, „dieses paradoxe, exemplarische Bündnis zwischen Leistungskraft und Solidarität, das die soziale Marktwirtschaft charakterisiert“. Hier wurden, bevor das Gift des angelsächsischen Kapitalismus auch Deutschland infizierte, langfristige Investitionen getätigt, der Bestand des Unternehmens, nicht der Profit stand im Vordergrund, zwischen Kapital und Arbeit wurde ein Ausgleich der Interessen gesucht, die Banken haben eine dienende Funktion für die Realwirtschaft, funktionierende soziale Sicherungssysteme flankieren die Marktwirtschaft, die Wirtschaft bildet in einem dualen System in Langzeitperspektive ihren Nachwuchs aus und versucht ihn langfristig an die Unternehmen zu binden. Dem „Raubtierkapitalismus“ steht ein gezügelter Kapitalismus gegenüber, der durch seine Nachhaltigkeit im Prinzip dem angloamerikanischen Modell überlegen ist. Er ist auch deshalb überlegen, weil nicht alle gesellschaftlichen Bereiche marktmäßig organisiert sind. Hier gilt das Wort des französischen Philosophen François Perroux: „Jede kapitalistische Wirtschaft funktioniert gleichmäßig aufgrund von sozialen Bereichen, die nichts mit dem Geist des Geldverdienens oder der Suche nach dem größten Gewinn zu tun haben. Die wertvollsten Güter im Leben der Menschen, die Ehre, die Freude, die Zuneigung, der gegenseitige Respekt, dürfen auf keinen Markt kommen.“

Der enthemmte Kapitalismus universalisiert dagegen marktkonforme Vergesellschaftungsmuster. Alle gesellschaftlichen Bereiche werden marktkonform umgestaltet: das Versicherungswesen, das Bildungswesen, die Verwaltungen, ja, das Sozialverhalten insgesamt, das nur noch strategischen Nützlichkeitskalkülen und der ökonomischen Zweckhaftigkeit folgt. Unter solchen Bedingungen erodieren die gesellschaftlichen Institutionen, die auch eine kapitalistisch organisierte Wirtschaft braucht, der Kapitalismus wird unter solchen Bedingungen destruktiv.

Für diese Form des Kapitalismus gilt das Wort von Wolfgang Böckenförde: „Die moderne Gesellschaft lebt aus Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann, ja schlimmer noch, die sie ununterbrochen verzehrt.“ Auch der Soziologe Helmut Dubiel stellt diesbezüglich fest, daß der Marktmechanismus bis in die 1980er Jahre erfolgreich war, weil Sinnstrukturen nicht-marktmäßiger Vergesellschaftung koexistierten (Altruismus in der Familie, Pflegebereitschaft, Respekt vor Autorität, Gesetzesloyalität, Ethik der Arbeit), die sich auch auf vorkapitalistische Sinn- und Verpflichtungssysteme stützen konnten.

Die Universalisierung marktkonformer Vergesellschaftungsmuster hat nachhaltig diese vormodernen Sinnsysteme zerstört, die aber erforderlich sind, weil Gesellschaften sich nicht alleine über die Vergesellschaftung durch den Markt stabilisieren können.

Für Michel Albert steht fest, daß alleine der Rheinische Kapitalismus eine Zukunft hat. Der Sozialismus ist dabei keine wirkliche Alternative. Die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus würde durch eine stationäre Mangelwirtschaft ersetzt. Und so gilt weiterhin: Der Kapitalismus hat Krisen, der Sozialismus ist Krise!

 

Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrt Medizinsoziologie an der Universität Konstanz und ist Vizepräsident des Studienzentrums Weikersheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Formen des „Antifaschismus“ („Die Gesinnungsjäger“, JF 33/11).

Die gegenwärtige Finanz- und Währungskrise läßt sich nur durch ein monetäres Völkerrecht überwinden, meinte Wilhelm Hankel vor zwei Wochen an dieser Stelle. Der Soziologe Jost Bauch vermißt dagegen den Rheinischen Kapitalismus der alten Bundesrepublik.

Foto: Raubtierkapitalismus: Was man am Rhein wußte, vergaß man an der Themse und am Hudson River – Geld schafft kein Geld, sondern nur Kreditblasen

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