© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/11 / 04. November 2011

Auf dem Weg zur Großen Koalition
Euro-Rettung: Kaum verhohlen steuert Bundeskanzlerin Angela Merkel auf eine Neuauflage des Bündnisses mit der SPD zu
Michael Paulwitz

Prawda-reife Hymnen stimmte die Presse nach dem Brüsseler EU-Gipfel auf die Bundeskanzlerin an, die sich unermüdlich und mit stählerner Gesundheit für die Euro-Rettung abarbeite und dabei kaum noch zum Schlafen komme. Landauf, landab himmelten Kommentatoren Angela Merkel dafür an, wie sie mit unergründlicher Don-Corleone-Miene von jenem „einzigen“ Schuldenschnitt-Angebot an die Banken berichtete, das diese nicht ablehnen konnten. Lange hielt die Begeisterung freilich nicht.

Kaum drei Tage nach der wieder einmal endgültigen Euro-Rettung auf dem Brüsseler Gipfel geriet Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) in Erklärungsnöte. Das Eingeständnis, durch Buchungsfehler bei der „Bad Bank“ der verstaatlichten Hypo Real Estate (HRE) sei die deutsche Staatsschuld auf dem Papier bisher um 55,5 Milliarden Euro oder 2,6 Prozentpunkte zu hoch angesetzt worden, erhärtete den für Banken, Wirtschaftsprüfer und den aufsichtführenden Minister gleichermaßen peinlichen Verdacht, die Verantwortlichen hätten das Euro-Billionenspiel schon länger nicht mehr im Griff.

Das HRE-Desaster ließ kurzfristig sogar die Klatsche in Vergessenheit geraten, die das Bundesverfassungsgericht den Euro-Rettern bereits am Tag nach der Rückkehr vom Brüsseler Gipfel versetzt hatte. Karlsruhe verwarf die Aushebelung des Parlamentsvorbehalts, wonach die Mitwirkungsrechte des Bundestags bei Entscheidungen über Mittelvergaben aus dem sogenannten Euro-„Rettungsfonds“ EFSF auf ein Hinterzimmergremium aus neun Abgeordneten beschränkt werden sollte (siehe Meldung auf dieser Seite).

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung die allzu offensichtliche Parlamentsmißachtung durch die Partei- und Regierungsspitzen korrigiert, den „exekutivischen Scheinparlamentarismus“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), der im Bundestag lediglich ein Akklamationsorgan sieht und sich auch gar keine Mühe gibt, diese Geringschätzung zu verhehlen. Zugleich hat es dem Bundestag ein weiteres Armutszeugnis ausgestellt, da das Parlament auch diese Eigenkastrierung zunächst mehrheitlich selbst beschlossen hatte. In der Sache macht es freilich kaum einen Unterschied, ob ein Neunergremium, der 41köpfige Haushaltsausschuß oder der ganze Bundestag über die Ausreichung neuer Milliardentransfers an Euro-Pleitestaaten entscheidet: Überwältigende Mehrheiten scheinen jedesmal gesichert, da weder Regierung noch Opposition den Sinn der Euro-Rettungsmilliarden, für die die eigenen Steuerzahler in Haftung genommen werden, in Frage stellen. Während die Deutschen auch zehn Jahre nach der Euro-Einführung in ihrer Zustimmung zur Gemeinschaftswährung unvermindert gespalten sind und die Schaffung einer Transfer- und Haftungsunion zur „Rettung“ des Euro mit deutlichen Mehrheiten ablehnen, bestimmt im Bundestag eine ganz große Koalition der Euro-Verteidiger um jeden Preis das Meinungsklima.

Das bewirkt, daß die SPD, der eigentlich die Rolle der Opposition im Bundestag zukäme, von den handfesten Schnitzern der Koalition kaum profitieren kann. Daß die beiden SPD-Abgeordneten, die in Karlsruhe gegen das EFSF-Neunergremium geklagt haben, dieses zuvor selbst ohne Widerspruch mitbeschlossen hatten, ist bezeichnend für das Dilemma einer Oppositionspartei, die in entscheidenden Fragen keine inhaltliche Alternative zur Regierungspolitik hat und im politischen Berlin unter dem Eindruck der Euro-Rettungsfront längst als Partner einer „informellen großen Koalition“ begriffen wird.

Die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel steuert eine solche kaum verhohlen schon seit längerem wieder an. Das zeitgleiche Einschwenken auf die Befürwortung flächendeckender gesetzlicher Mindestlöhne ist nach der Aufgabe der Wehrpflicht, dem Abschied vom dreigliedrigen Schulsystem und dem Atomausstieg ein weiteres starkes Signal in diese Richtung. Für die FDP wird ihre Positionierung in der schwarz-gelben Koalition damit mehr und mehr zur Überlebensfrage.

Die von Finanzminister Schäuble generös zugestandene „Steuerentlastung“ wird dem FDP-Chef und Wirtschaftsminister Philipp Rösler keine Entlastung bringen. Ihr Volumen von sechs bis sieben Milliarden Euro ist angesichts sechs- bis siebenfach höherer Steuermehreinnahmen geradezu obszön gering, wird im Streit mit der CSU bereits wieder zerredet und befeuert eher neue Gerüchte um einen Bruch der Koalition, als diese zu stabilisieren.

Für die sich selbst abschaffenden Liberalen ist es ein schwacher Trost, daß auch der Stern der Grünen angesichts des alles dominierenden Euro-Themas wieder sinkt und die Linkspartei aus ihrer mehr von Klassenkampfparolen als von der Sorge um den Steuerzahler diktierten Ablehnung der Euro-Rettungsschirme keinen Nektar saugen kann. Da der FDP sowohl der Mut als auch die personelle und inhaltliche Glaubwürdigkeit für eine Gegenposition zur unpopulären Transfer-
union fehlt, droht ihr als kleinstes und schwächstes Glied einer Volksfront gegen das Volk bei vorgezogenen wie bei regulären Neuwahlen der Untergang.

Foto: Kanzlerin Angela Merkel, Finanzminister Wolfgang Schäuble: Das Billionenspiel längst nicht mehr im Griff

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