© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/11 / 04. November 2011

Sprache der Beschwichtigung
Tunesien: Der Sieg der „islamistisch-demokratischen“ Ennahda erweckt Skepsis / Krawalle im Süden des Landes
Günther Deschner

Arabischer Frühling – islamistischer Sommer? Trotz aller Prognosen, die einen Erdrutschsieg der islamischen Ennahda-Partei („Wiedergeburt“) prophezeiten, rieben sich manche junge Jasmin-Revolutionäre ungläubig die Augen. Mit gut 41 Prozent der Stimmen wurde Ennahda bei den ersten Wahlen nach dem Sturz des islamkritischen Ben Ali stärkste politische Kraft und gewann 91 der 217 Sitze der Verfassungsversammlung.

Stolz posierte Wahlsieger Rachid Ghannouchi mit seiner schleiertragenden Frau und Tochter vor den Kameras. Aber hatte der 70jährige nicht nach seiner Rückkehr aus dem Londoner Exil im Januar verkündet, kein politisches Amt anstreben zu wollen? Nun hat er es inne und der Jubel der Ennahda-Anhänger und die Skepsis der Säkularisten ist groß.

Zur Beschwichtigung begrüßen viele Beobachter den Umstand, daß Ennahda darauf angewiesen ist, eine Koalition mit säkularen Parteien zu bilden, um regieren zu können. Sie sehen darin eine Garantie, daß die eher säkulär orientierte Hälfte der Tunesier nicht ignoriert und kalt- gestellt werden kann. Als Partner kommen zwei Gruppierungen links von der Mitte in Betracht: die Partei des aus dem langjährigen Pariser Exil heimgekehrten Arztes und Menschenrechtlers Moncef Marzouki, „Kongreß für die Republik“ (CPR), die 30 Sitze eroberte, oder die linke Sammelpartei Ettakatol („Zusammenschluß“), die 21 Sitze erhielt.

Wie schon vor den Wahlen ist Rachid Ghannouchi weiterhin darauf bedacht, die Befürchtungen zu zerstreuen. Er spricht von einer „großen nationalen Allianz“ und betont bei jeder Gelegenheit, daß Ennahda nicht vorhätte, ein islamistisches Regime einzuführen. „Ich sehe lieber Gesichter ohne Schleier als solche, die eine Maske der Verstellung tragen“, sagte „der Scheich“, wie Ghannouchi in Tunesien teils respektvoll, teils ein wenig ironisch genannt wird, und fuhr fort: „Der Staat hat sich nicht einzumischen, was die Leute essen und wie sie sich kleiden. Macht euch keine Illusionen, Ennahda ist eine politische Partei – und keine Mystiker-Bewegung! Die Rechte der Frauen, mit oder ohne Schleier, werden durch die kommende Verfassung garantiert werden.“

Wieder und wieder beschwört Ghannouchi, seine Partei sei nicht „islamistisch“ sondern „islamisch und demokratisch“ und dies bedeute, daß ihr der Islam als „moralische Inspiration“ diene, „vergleichbar mit der Christlichen Demokratie in Deutschland“.

Jeder Mann und jede Frau, so Ghannouchi weiter, werde weiter frei bleiben, sich zu kleiden, wie sie es wollten. Die Bikinis der Feriengäste an den Stränden würden nicht verboten und auch ihr Alkohol nicht – „Allerdings könnte es erhöhte Steuern darauf geben.“ Mit seinem wiederholten Hinweis, den Banken werde „kein islamisches Zinsverbot aufgezwungen“, gab der Wahlsieger einen deutlichen Fingerzeig auf die Wirtschafts- und Finanzprobleme des Landes und darauf, daß er auf internationale Unterstützung hofft.

Viel Zeit bleibt Ghannouchi nicht. Denn noch während seine Anhänger vor der Parteizentrale feierten, kam es in der sozial und wirtschaftlich benachteiligten Provinz, in der die Jasmin-Revolution ihren Ursprung hatte, nach Disqualifikation der Al-Aridha Chaabia-Partei („Petition des Volkes“), die viertstärkste Kraft wurde, zu Krawallen Jugendlicher und heftigen Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften.

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