© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/11 / 04. November 2011

Euroskeptische Euphorie
Großbritannien: Trotz Niederlage im Ringen um einen EU-Volksentscheid wittern Tory-Rebellen und EU-Skeptiker Morgenluft
Derek Turner

Ende Oktober rebellierten 79 Abgeordnete der Konservativen Partei gegen den Fraktionszwang und stimmten für den Antrag des Hinterbänklers David Nuttall, einen Volksentscheid über Großbritanniens Verhältnis zur EU in die Wege zu leiten.

Der Antrag, dem eine Petition mit 100.000 Unterschriften zugrunde lag, fordert, daß den Briten bis spätestens Mai 2013 drei Alternativen zur Abstimmung vorgelegt werden: Festhalten am Status quo, Austritt aus der EU oder Neuverhandlungen über die Bedingungen einer britischen EU-Mitgliedschaft. Es war die schwerste innerparteiliche Niederlage, die je ein konservativer Parteivorsitzender in der Europafrage hinnehmen mußte. Erinnerungen wurden wach an John Majors Amtszeit und die bitteren Streitigkeiten über die Währungseinheit.

Großbritannien hat stets eine Distanz zur EU gewahrt, und seit seinem Beitritt im Jahr 1973 fühlt sich eine beachtliche Minderheit von den Politikern getäuscht. Das gilt erst recht für Tory-Politiker, von denen erwartet wird, daß sie patriotisch handeln, und die in der Opposition häufig eine EU-kritische Rhetorik pflegen, der sie allzu selten Taten folgen lassen, wenn die Partei wieder die Regierungsmacht übernimmt. Seit langem sorgt ein breites Spektrum EU-kritischer Interessenvertretungen – darunter die einflußreiche Fresh Start Group, zu deren Gründungsfeier im September 100 Abgeordnete erschienen – ebenso wie die United Kingdom Independence Party (UKIP), die vor allem in umkämpften Wahlkreisen Druck auszuüben vermag, dafür, diese EU-Kritik wachzuhalten.

Daß Premier David Cameron, einst ein erklärter Gegner des Vertrags von Lissabon, seine „felsenfeste Garantie“ für einen Volksentscheid bislang nicht eingelöst hat, handelt ihm vor allem beim rechten Parteiflügel viel Mißtrauen ein.

Großbritannien wird vorerst in der EU bleiben – der Antrag wurde mit 483 zu 111 Stimmen niedergeschlagen –, auffällig ist indes das Bemühen, die Rebellen zu beschwichtigen. Cameron beeilte sich zu betonen, zwischen ihm und seinen „geschätzten Kollegen“ bestehe „keinerlei Groll“. Seine eigene Haltung, so der Premier, entspringe im wesentlichen der Befürchtung, daß ein Volksentscheid eine destabilisierende Wirkung auf die EU-Politik und auf die Euro-Zone ausüben und dadurch die britische Volkswirtschaft negativ beeinflussen könne.

Bildungsminister Michael Gove, der zu den einflußreichsten Stimmen im Kabinett zählt, versicherte, daß die Partei sich über die Ziele einig sei – lediglich bezüglich der Mittel gebe es unterschiedliche Meinungen: „Der Antrag war sehr präzise formuliert, so daß eine Anzahl von Menschen wie ich selber, die leidenschaftliche EU-Skeptiker sind, sagen konnten: Ich bin zwar mit den Taktiken nicht einverstanden, aber über das endgültige Ziel sind wir uns einig.“

Gove fügte hinzu, Cameron sei „überzeugt“, daß Kompetenzen aus Brüssel wieder ins eigene Land zurückverlagert werden müßten. Genauer wollte er sich dazu nicht äußern. Daher fordert der Tory-Abgeordnete Mark Pritchard „Klarheit“ in der Frage einer Repatriierung politischer Kompetenzen und warnte, daß das Problem sich nur noch ausweiten würde, wenn es nicht gelöst werde.

Ebendiese Frage wird Cameron so lange wie möglich unbeantwortet lassen, muß er doch die Kluft zwischen seinen Hinterbänklern und den EU-freundlichen Liberaldemokraten überspannen.

Dieser Drahtseilakt, einerseits das Vertrauen der eigenen Abgeordneten zu gewinnen – fast die Hälfte der Rebellen sind neue Abgeordnete, die sich nur geringe Aufstiegschancen ausrechnen – und andererseits weder den Koalitionspartner noch die Finanzmärkte zu beunruhigen, ist mühsam genug.

Erwägungen, die bestehenden Verträge zu ändern, um der Euro-Krise Herr zu werden, könnten Cameron in Zugzwang bringen. Sobald die Länder der Euro-Zone von sämtlichen Mitgliedsstaaten weitere Finanzleistungen und die Abtretung weiterer wirtschaftlicher Kompetenzen fordern, würde dies in Großbritannien eine neue Debatte auslösen und womöglich sogar zu einem Volksentscheid führen, den selbst die amtierende Regierung unterstützen könnte. Grund genug für EU-Skeptiker, Morgenluft zu wittern.

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