© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/11 / 04. November 2011

Pankraz,
Prof. Brandt und der ägyptische Kranich

Vor 150 Jahren erschien in Leipzig die allererste, noch recht unausgereifte Fassung des „Illustrirten Thierlebens“ von Alfred Brehm, jenes legendären works in progress, das von da an faktisch jedes Jahr „in gründlich verbesserter und erweiterter Form“ neu herauskam, bis zu Brehms Tod im November 1884. Das Buch war ein gewaltiger Erfolg und ist mittlerweile unvergehbar als „Brehms Tierleben“ oder schlicht als „Der Brehm“ in die Literatur- und Wissenschaftsgeschichte eingegangen.

Brehm war ein genialer, äußerst fleißiger und genauer Forschungsreisender und Naturbeobachter, dessen exakte und sehr anrührende, nämlich strikt vermenschlichende Tierbeschreibungen das Publikum von vornherein spalteten. „Das Volk“ liebte ihn dafür heiß und innig, aber „die Wissenschaft“ bekicherte und belachte ihn. Hier also zunächst einmal einige Kostproben aus Brehms „Tierleben“ (aus der Ausgabe von 1875).

Über den Pavian: „Die Paviane sind alle mehr oder weniger schlechte Kerle, immer wild, zornig, unverschämt, geil, tückisch. Ihre Schnauze ist ins gröbste Hundeartige ausgearbeitet, ihr Gesicht entstellt, ihr After das Unverschämteste. Schlau ist der Blick, boshaft die Seele (...) Ihre Geilheit geht über alle Begriffe. Sie gebärden sich selbst Männern und Jünglingen gegenüber schändlich. Kinder und Frauen darf man nicht in ihre Nähe bringen.“

Über das Känguruh: „Alles Ungewohnte bringt es außer Fassung, weil ihm ein rasches Übersehen der Verhältnisse abgeht (...) Dem gefangenen Känguruh erscheint ein neues Gehege im allerhöchsten Grade bedenklich. Es kann zwischen Eisengittern groß geworden sein und, auf einen anderen Platz gebracht, an demselben den Kopf sich zerschellen (...) In freudige Erregung kann es aber geraten, wenn es nach längerwährender Hirnarbeit zur Überzeugung gelangt, daß es auch unter Känguruhs zweierlei Geschlechter gibt.“

Über den Kranich: „So vorsichtig der Kranich dem Menschen ausweicht, solange er frei ist, so innig schließt er sich ihm an, wenn er in dessen Gesellschaft kam. Leichter als jeder andere Vogel gewöhnt er sich an das Gehöft, an das Haus seines Pflegers, lernt hier jedes Zimmer kennen, lernt die Verhältnisse würdigen, bekundet bewunderungwertes Verständnis für Ordnung, duldet auf dem Geflügelhofe keinen Streit, befreundet sich mit wohlwollenden Menschen, läßt sich aber nichts gefallen und trägt ungebührliche Beleidigungen monate-, ja jahrelang nach, kurz, zeigt sich als wahrer Mensch im Federkleide.“

Solche Beschreibungen also ärgerten oder belustigten die strikt auf „bloße Instinkte“ ausgerichtete Biologie und Ethologie des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Allein der Mensch, so die damalige „aufgeklärte“ Überzeugung, kann denken, das Tier hingegen (jedes Tier) folgt lediglich „Instinkten“, d.h. von der Natur vorgegebenen physischen Antrieben, alle seine Entscheidungen sind spontan und letztlich unbewußt, es ist immer nur Objekt, niemals Subjekt eines ablaufenden Handlungsprozesses.

Inzwischen freilich hat sich die Verhaltensforschung geradezu explosionsartig ausgefaltet, wir verfügen über unzählige neue empirische Befunde, und alle laufen auf die Schlußfolgerung hinaus, daß es keineswegs eine deutliche Differenz zwischen „Instinkt“ und „richtigem Denken“ gibt. Früher hieß es etwa, Tiere könnten keine Werkzeuge anfertigen und das sei ein Beweis für ihre Denkunfähigkeit. Heute wimmelt es von ausgedehnten, sorgfältig dokumentierten Beobachtungen und Experimenten, die alle genau das Gegenteil bezeugen, und zwar nicht nur bei Schimpansen und Bonobos.

Krähen durchschauen die schwierigsten technischen Zusammenhänge, kalkulieren schlau und verfertigen die raffiniertesten Werkzeuge. Und fast das gleiche gilt sogar für gewisse Spinnen- und Käferarten! Die Ethologen befinden sich zur Zeit wie im Rausch, ein Experiment jagt das andere, und alle liefern einschlägige, sensationelle Erkenntnisse. „Willkommen, ihr Tiere, im Reich des Denkens!“

Nur einer hat sich bisher quergelegt: der Marburger Philosoph und Kantexperte Reinhard Brandt in seinem bei Suhrkamp erschienenen Buch „Können Tiere denken?“ Brandt teilt die allgemeine Begeisterung nicht. Sicher, sagt er, Tiere können eine ganze Menge. Viele Arten verfügen über eine immense „innere Arena von Bildern“. Aber Denken, sagt der Logiker Brandt, heißt Urteile bilden, über Ja oder Nein entscheiden und darüber reflektieren. Und das können Tiere seiner Meinung nach eben nicht.

Doch so sympathisch sich das kühle Argumentieren des Marburgers auch anhört – überzeugen dürfte er damit keinen einzigen Tierfreund, sei dieser nun Hundebesitzer oder Delphin-Trainer. Auch Pankraz bleibt skeptisch. Der Begriff des Denkens bei Brandt erscheint ihm allzu eingeschränkt. Denken beginnt ja beileibe nicht erst mit der Kenntnis Kantscher Denkkategorien. Nicht einmal eine exakt prädikatisierende Sprache ist Voraussetzung dafür. Die Krähe kann nicht sprechen, doch denken kann sie durchaus.

Alfred Brehm schrieb sein „Tierleben“, wie gesagt, jedes Jahr neu, paßte es dem jeweiligen Wissensstand an. Aber bis zuletzt blieb er der Überzeugung, daß auch das Tier Geist und Seele habe, also kein bloßes „Instinktwesen“ sei, welches „lediglich auf die Forderungen der Natur reagiert, ohne im mindesten dabei zu denken“.

„Was schadet es denn dem Menschen“, so fragte er schon in der zweiten Auflage, „wenn man dem Tiere zuerkennt, was ihm gebührt, also Verstand? Wird unser Denken, Fühlen, Glauben durch solche Annahme irgendwie beeinträchtigt oder geschädigt? Lebt und verkehrt es sich besser mit Maschinen als mit geistig tätigen Wesen, von denen ein jedes wirkt und handelt in der seinen Fähigkeiten entsprechenden Weise?“

Der mit Brehm eng befreundete, so ungemein höfliche und stolze Kranich auf seiner Farm in Ägypten hatte ihm tagtäglich bewußtgemacht, daß es gut ist, mit Tieren als denkenden Wesen zu verkehren.

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