© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/11 / 04. November 2011

Der Reformpädagoge Hartmut von Hentig
Entzauberter Magier
Konrad Adam

Das griechische Drama, so wie es in Athen dargeboten wurde, zerfiel in zwei große Teile, die Tragödie und das Satyrspiel. Die eine war lang, blutig und ohne Happy-End: sie sollte beim Zuschauer die Furcht und das Mitleid wachrufen. Das andere, das Satyrspiel, war kurz und lustig, es wollte entlasten und amüsieren. Der moderne, wissenschaftlich ambitionierte Pädagoge macht es umgekehrt: Zunächst einmal will er sich amüsieren. Dazu inszeniert er ein gewaltiges Spektakel, in dessen Mittelpunkt er selbst steht. Wenn die Aufführung mißlingt und das Stück durchfällt, macht er sich auf und davon und überläßt das Aufräumen seinen Mitspielern, den Kindern. Er versteht sich ja als Wissenschaftler, und Wissenschaftler sind, wie man weiß, nur für die Folgen ihres Treibens verantwortlich; mit den Nebenfolgen fertig zu werden, ist Sache der anderen.

Keiner hat sich so eifrig darum bemüht, die Pädagogik in den Rang einer Wissenschaft zu erheben, wie Hartmut von Hentig. Am Ende hatte er aus seinem Namenskürzel, dem HvH, eine Art Markenzeichen gemacht, das überall dort aufgeklebt wurde, wo es etwas Neues, Verblüffendes und Sensationelles vorzuweisen gab. Um es mit einem einzigen Zitat aus seinem uferlosen Schrifttum zu belegen: „Obwohl die wissenschaftliche Kritik unbarmherzig und einhellig negativ auf das Beurteilungssystem unserer Schulen niedergegangen ist, hat es sich nicht nur erhalten, sondern in seinen untauglichen, widersprüchlichen, schädlichen Bestandteilen verschärft. Obwohl die Wissenschaft einschränkende und verneinende Ergebnisse zu Wert und Wirkung der frühen Begabungsauslese, des Sitzenbleibens, der Hausaufgaben, der Geschlechtertrennung, der Zeiteinteilung unserer Stundenpläne, der körperlichen Züchtigung, der Klassenfrequenz von 35 und bis 40 Kindern, der herrschenden Form der Lehrerbildung erbracht hat und fortwährend bestätigt und differenziert, bleibt es bei diesen Merkmalen unserer Schulen.“

Man sieht: Am deutschen Schulwesen war und ist so ziemlich alles falsch. Und alles hätte gut und richtig werden können, wenn man auf HvH gehört hätte. Leider war das nicht so einfach, weil, wie Hentig selbst bemerkt hat, sein Fach, die Pädagogik, zwar Visionen und Utopien zuhauf hervorbringt, die Voraussetzungen, die nötig sind, um die Theorie praktisch werden zu lassen, aber nicht mitliefern kann. Für das, für die Voraussetzungen, sind die anderen zuständig, allen voran die Politik, dann aber auch die bösen Eltern und die armen Kinder, die nie so wollen oder können, wie HvH das wollte, aber auch nicht konnte. Ganzwortmethode, Mengenlehre, Medienerziehung und wie die Modeartikel der progressiven Pädagogik sonst noch heißen – nie lief es so, wie Frau Ilsebill sich das gedacht hatte. Deswegen, weil die Welt böse und die Menschen schlecht sind, muß sie jetzt immer noch in ihrem alten Pißpott sitzen.

Ohne den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit ist Hentig niemals ausgekommen. Wenn es ernst wurde, berief er sich auf die Wissenschaft, als wäre sie seine Tante. Bis vor kurzem jedenfalls, denn seitdem Hentigs Freund und Lebensgefährte Gerold Becker und die von ihm geleitete Odenwaldschule in den Ruf gekommen sind, Pädagogik mit Pädophilie zu verwechseln, läßt sich mit Wissenschaft im allgemeinen und Erziehungswissenschaft im besonderen nicht mehr alles begründen.

Eine Zeitlang hatte der unermüdlich redende und schreibende HvH noch versucht, argumentativ mitzuhalten und Gerold Becker beizuspringen: „Mein Freund bleibt mein Freund“, wie er die Öffentlichkeit wissen ließ. Aber schon damals, kurz nach Bekanntwerden des Skandals, wollte er vom Schmuddelkram der Odenwaldschule nichts mehr hören. In der Zeit ließ er eine larmoyante Apologie erscheinen, in der er gleich dreimal fragte: „Was habe ich damit zu tun?“ Damit – das waren die sexuellen Übergriffe gegen Minderjährige, die an der Odenwaldschule offenbar zum erzieherischen Programm gehörten.

Bei dieser Linie, beim Ausweichen und Wegducken, ist es geblieben. Denn jetzt hat HvH darauf verzichtet, in Frankfurt einen Vortrag über das schöne und offenbar von ihm selbst gewählte Thema „Wahrheit, Wehmut und Witz“ (allerdings nicht bei ihm, sondern bei Golo Mann) zu halten. Ihm war zu Ohren gekommen, daß ein paar Zöglinge der Odenwaldschule, denen Becker seine Freundschaft in dem ihm eigenen Stil angeboten, nahegelegt oder aufgenötigt zu haben scheint, von ihm hören wollten, wie er, der Männerfreund, zu dieser Art von Kinderfreundschaft stand. Hentig hielt das, wie er die Veranstalter wissen ließ, für Nötigung, ja Wegelagerei, und sagte seinen Vortrag ab.

Wo er sich zu Wort meldete, mußte man nie lang auf Stichworte wie Freiheit und Autonomie, Verantwortung und Selbstbestimmung warten; sie zu preisen, war sein ewiges Programm. Die Pflicht, öffentlich Rechenschaft zu leisten, Rede und Antwort zu stehen, das Prüfen und Sich-prüfen-lassen hat Hentig immer wieder angemahnt und als Kern dessen, was er sokratisches Lehren und Lernen nannte, in den Himmel gehoben. So lange zumindest, bis ein paar junge Leute auf den Gedanken kamen, ihn beim Wort zu nehmen und von ihm Antwort auf die Frage zu verlangen, was er von den Praktiken des „begnadeten Pädagogen“ Gerold Becker hielt und wußte. Da war es mit dem logon didonai, wie das die Griechen nannten, aus und vorbei, und HvH beklagte sich über Nötigung und Wegelagerei.

Sich dem einzelnen zuwenden; ein Beispiel geben; offen, wahrhaftig und authentisch sein – das waren die Parolen, mit denen Hentig durch die Lande zog. Das Modell, das ihm auf seinem Mustergut, der Bielefelder Laborschule, vorleuchtete, war die griechische Polis: ein kleiner, überschaubarer Personenverband, in dem jeder jeden kannte und sich so etwas wie permanente Öffentlichkeit von selbst verstand; „Alle sehen alles“ hieß das pompöse Motto. An der Odenwaldschule offenbar nicht. Denn wenn man Hentig glauben will, hat er von dem Treiben und den Trieben seines guten Freundes nichts bemerkt. Sollte das so gewesen sein: Welches Licht wirft das auf einen Pädagogen, der stolz darauf war, die Kinder zu verstehen, sie ernst zu nehmen, ihre Wünsche zu kennen und ihre Sorgen zu teilen? Wenn aber nicht: Was bleibt dann übrig vom hochgestochenen Programm des sokratischen Lehrens und Lernens? An seiner Strategie, dem Falschen gegen die Falschen beizustehen, hält Hentig fest. Sie hat ihn zu der halsbrecherischen Behauptung verleitet, nicht der Ältere habe die Jüngeren, sondern die Jüngeren hätten den Älteren verführt. Das ist eine im Milieu der Pädophilen gängige Behauptung: Man verlangt, den falschen Dieb zu halten, um den wahren entschlüpfen zu lassen.

Wenn es tatsächlich so etwas wie den minderjährigen Verführer gab, hätte ihm, jenem HvH, der sich so gern als Kenner und Liebhaber der griechischen Antike aufspielte, aber doch ein anderes Beispiel vor Augen stehen müssen. Eines, von dem er hätte lernen können, wie der platonische Eros in Wahrheit aussah. Im „Gastmahl“, einem der schönsten, weil stimmungsvollsten Dialoge Platons, schildert eine berühmte Szene – Anselm Feuerbach hat sie gemalt – beides: den Versuch des jungen Alkibiades, den älteren Sokrates zu verführen; und wie der Ältere darauf reagierte, abweisend nämlich. Sokrates hüllt sich in seinen Mantel und gibt dem schönen Alkibiades zu verstehen, daß er sich wohl geirrt habe, wenn er die Lehre von der Liebe zum Schönen so ausdeute.

In Bielefeld hatte sich HvH eine Traumlandschaft zurechtgezimmert, die vom Alltag in den gewöhnlichen, den Volks-, Grund- und Oberschulen, himmelweit entfernt war. Da konnte er seine mehr oder weniger konkreten Utopien auspinseln und mit der Wirklichkeit verwechseln, denn die war niemals seine Sache, genausowenig wie die der anderen Reisbrettpädagogen. Sie machen lauter schöne Pläne, weil sie vom Alltag mit seinen tausend Widrigkeiten nichts wissen und nichts wissen wollen. Sie suchen ihre Anerkennung draußen, auf dem Markt, im hellen Licht der großen Bühne, nicht im mühseligen, aufreibenden, wenig spektakulären Umgang mit Kindern.

Wahrscheinlich waren es seine Eitelkeit und sein überzogenes Geltungsbedürfnis, der Glaube an sich und seinen großen Namen, der ihn bis zuletzt daran gehindert hat, ein Gebot des Anstands zu erfüllen und sich vor Beckers Opfern zu erklären, gleichgültig wie und wo. Dieses Versagen vor dem eigenen Anspruch macht den Fall des HvH so exemplarisch für die Schwächen der Reformpädagogik. Es gibt so gut wie keinen Unsinn, den diese Sekte nicht irgendwann verfochten hätte – und man darf um so unbefangener von Unsinn reden, als es die Reformer selbst waren, die das Steuer immer wieder herumgerissen haben.

Die Sonderschule, die Heimerziehung, die Koedukation und was es sonst noch gibt im Supermarkt der Pädagogik: alles wurde einmal verlangt und dann wieder verworfen. Und immer mit dem Anspruch, „die“ Wahrheit „der“ Wissenschaft zu verkünden. Man brauchte nur zu warten, bis die Reformer das Gegenteil von dem propagierten, was gestern noch ihr letzter Schrei gewesen war. Sie haben damit der Schule das geraubt, was diese auf Dauer und Verläßlichkeit angewiesene Einrichtung mehr braucht als jede andere Institution: ein Mindestmaß an Berechenbarkeit, an Wiedererkennbarkeit nach Ablauf von drei oder vier Jahren. Das Ergebnis ist der Ruin des ehemals als vorbildlich eingeschätzten und in aller Welt geachteten deutschen Schulsystems.

Wenn sie sich sonst auch in nichts einig sind, eins wissen die Reformer ganz genau: daß nichts so bleiben darf, wie es ist. Gewachsenes und Gewordenes kommt ihnen schon deshalb als verdächtig vor, weil es gewachsen und geworden ist. Der Einwand, daß die Erziehung lange Fristen braucht und Ruhe ein Wert sein könnte, den man der Schule lassen, bei dessen Verteidigung gegen die Kapriolen des Zeitgeistes man ihr beispringen muß, gilt unter gläubigen Reformern als Ketzerei. Schon deswegen muß man froh sein, wenn bei den Studien und Gutachten und Untersuchungen, die sich der Qualitätssicherung einer Einrichtung widmen, deren Qualität sie systematisch untergraben, nicht mehr herauskommt als die triviale Erkenntnis, daß guter Unterricht das Werk von guten Lehrern ist. Gefährlich wird es ja erst dann, wenn die Reformer ihrer Lieblingstätigkeit nachgehen und die Schule, den Unterricht, das Lehren, das Lernen und was weiß ich noch „neu erfinden“ wollen. Sich als Vollzugsorgan des Weltgeistes zu betrachten, war ja schon immer die fixe Idee der Berufserzieher.

Als einer von ihnen hat Hartmut von Hentig sich selbst den Abgang bereitet, einen traurigen Abgang. Von dem, was er angestoßen, getan oder gewollt hat, wird nicht viel mehr bleiben als ein nachhaltiger, aber ganz unberechtigter Verdacht gegen die Tugenden, ohne die kein Erzieher auskommt, Begriffe wie Freundschaft und Liebe, Verantwortung und Vertrauen, Zuneigung und Zärtlichkeit und manches mehr. So hat Hentig seinem Fach, der Pädagogik, geschadet, viel mehr allerdings sich selbst. Denn am Ende steht dieser „Magier oder Magister“ – eine der suggestiven Formeln, auf die er sich verstand – als Schwächling da. Er hat sich selbst entzaubert.

 

Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, Publizist, war Feuilletonredakteur der FAZ, danach bis 2007 Chefkorrespondent der Welt. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Angela Merkel und die Atomkraft („Die Wendepolitikerin“, JF 13/11).

Foto: Traumatisiertes Kind: Manche „Experimente“ der Reformpädagogik hinterließen beschädigte Schülerseelen

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