© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/11 / 11. November 2011

„Das Regime erntet, was es gesät hat“
Syrien: Die Freie Syrische Armee als Speerspitze im militärischen Kampf gegen die Assad-Regierung / Türkei als Operationsbasis
Günther Deschner

In Berichten über die Wiederbesetzung der nordsyrischen Stadt Al-Rastan durch Regierungseinheiten, bei der es Ende August zu heftigen Gefechten gekommen war, tauchten sie zum ersten Mal auf – kleine, professionell operierende Einheiten einer Truppe, die sich selbst als „Freie Syrische Armee“ (FSA) bezeichnet. Ausgerüstet mit „RPGs“ (Rocket-Propelled Grenades), modernen Panzerabwehrwaffen, fügten die Aufständischen den Regierungstruppen empfindliche Verluste zu. Von vernichteten gepanzerten Fahrzeugen und mehr als 80 Toten war die Rede.

Seither häufen sich solche Meldungen: Aus Qusair etwa, an der Grenze zum Libanon, und aus den traditionell unruhigen Städten Homs und Hama: „10 Tote bei RPG-Angriff auf Armeebus“, „20 tote Regierungssoldaten bei Schußwechsel“ – so klangen die Syrien-Nachrichten der Agenturen in der letzten Oktoberwoche. Auch wenn im Krieg – im Orient ohnehin – übertrieben und gelogen wird, ist doch deutlich, daß sich das, was vor acht Monaten als Zivilprotest gegen das Regime des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad begann und trotz harten Durchgreifens von Sicherheitskräften nicht in den Griff zu bekommen war, immer deutlicher zu einem Bürgerkrieg entwickelt.

Andrew Gilligan, Star-Reporter des konservativen britischen Telegraph ist derzeit vielleicht der einzige westliche Journalist einer Qualitätszeitung, der von den Brennpunkten in Syrien nicht vom Hörensagen oder dubiosen Blogs berichtet, sondern nach eigenem Augenschein. Er kam vorige Woche zu dem Fazit, „die bewaffnete Opposition tötet inzwischen ebenso viele Syrer wie die Armee“. „Allein am letzten Wochenende starben mindestens 35 Soldaten und Angehörige anderer staatlicher Organe. Es ist ein Wendepunkt erreicht: Die Zahl der Todesopfer bei den Sicherheitskräften dürfte inzwischen sogar die der Toten aus der Protestbewegung übertreffen.“ Der renommierte US-Syrienexperte Jo-shua Landis kommentiert dazu: „Wenn das Regime erntet, was es gesät hat, dann wird aus dem, was in vielen Teilen Syriens derzeit geschieht, immer mehr ein bewaffneter Konflikt.“

Inwieweit die Bürgerkriegseinheiten tatsächlich der FSA angehören, ob und wenn ja, über welche Führungsstrukturen diese Schattenarmee verfügt, wie stark sie tatsächlich ist und woher sie ihre Ausrüstung bezieht, ist ungewiß. Auch der Luftwaffen-Oberst Riad al-Asaad, inzwischen eine federführende Figur im Kampf gegen das Regime von Präsident al-Assad, ist ein unbeschriebenes Blatt: Zum ersten Mal hörte man seinen Namen Ende Juli, als sich eine Gruppe von sieben Deserteuren der syrischen Armee, angeführt von diesem unbekannten Offizier, in einem Video als Keimzelle der „FSA“ präsentierte. Der Oberst dürfte bislang der ranghöchste syrische Militär sein, der dem Regime von Damaskus den Rücken gekehrt hat. Die Stärke seiner Truppe soll auf einige tausend Mann angewachsen sein.

Bekannt wurde der desertierte Offizier erst vor einer Woche, als die New York Times nach einem Treffen mit ihm in einem Lager in der Südtürkei über die Bildung der „Freien Syrischen Armee“ unter seinem Kommando berichtete – für die türkische Regierung ein kompromittierender Artikel, der deutlich machte, daß Ankara nicht nur syrischen Zivilisten Zuflucht gewährt, sondern auch der Führung einer im Nachbarland kämpfenden Bürgerkriegsarmee.

 Ein Vertreter des türkischen Außenministeriums beeilte sich zu erklären, die Gruppe werde aber „nicht direkt militärisch oder mit Waffenlieferungen unterstützt. Wir gewähren diesen Menschen aus humanitären Gründen vorübergehend Unterkunft.“

In dieser Situation wirkte die Verkündung und Annahme des Friedensplans der Arabischen Liga wie eine letzte Chance „fünf vor zwölf“, in dem sich Damaskus vor zwei Wochen verpflichtet hatte, das militärische Vorgehen gegen unbewaffnete Demonstranten einzustellen, politische Gefangene freizulassen und ausländische Journalisten ins Land zu lassen.

In einem aktuellen „Krisenalarm“ der renommierten „International Crisis Group“ wurde diesen Montag angemahnt, es könne „nicht genügen, wenn nur Damaskus die der Liga gemachten Zusagen erfüllt“. Vielmehr wird verdeutlicht, daß „die konkurrierenden Gruppen der Opposition ihre Gewaltakte gegen die Sicherheitskräfte einstellen müssen, wenn der Friedensplan gelingen soll“.

Foto: Syrische Flüchtlinge in einem Lager des Türkischen Roten Halbmondes in Hatay / Türkei: Nährboden für die Rekrutierung von Kämpfern

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