© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/11 / 11. November 2011

Die Kunst der Entschleunigung
Blüte, Reifung, Verfall: Mobilität ist kein Selbstzweck / Muße zu haben bedeutet mehr als Nichtstun
Baal Müller

Nachdem vor einigen Wochen mehrere Brandanschläge auf das Berliner Nahverkehrsnetz verübt worden sind, bekannte sich eine Gruppierung dazu, die man allgemein als linksextremistisch einstufte. Unabhängig von dieser – durch die Parallelen zu den Brandstiftungen an Autos nahegelegten – Einschätzung und sogar unter Absehung von Selbstzuschreibungen oder Polizeiberichten ist jedoch nach der tatsächlichen Motivation der Täter zu fragen.

Zwei Gründe wurden vom „Hekla-Empfangskomitee“ für die Taten genannt: erstens der Protest gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, der wesentlich über die Infrastruktur der Hauptstadt abgewickelt würde, und zweitens das Bestreben, Berlin eine Mobilitätspause zu verordnen. Die Hauptstadt sollte kurzfristig „entschleunigt“ werden.

Der zweite Aspekt hat nicht nur mit dem – etwas weit hergeholten – pazifistischen Motiv zu tun, sondern verweist auf eine grundsätzliche Kritik am Prinzip einer „totalen Mobilmachung“, die zum einen den Tagesablauf des Menschen reguliert und ihn zum anderen dem Diktat der Verfügbarkeit als Arbeitsplatznomade auf den „globalen Märkten“ unterwirft.

Links ist diese Kritik nicht. Die Aktionen der Hekla-Gruppe wurden daher auf der tatsächlich linksextremen Internetplattform linksunten.indymedia.org durchweg mit Häme kommentiert. Die Diskussion erinnerte, wenngleich auf noch dürftigerem Niveau, an die Rezeption des Manifestes „Der kommende Aufstand“, das – 2007 in Frankreich anonym veröffentlicht und letztes Jahr auf deutsch erschienen – in der FAZ als vielleicht „wichtigstes linkes Theoriebuch unserer Zeit“ bezeichnet wurde, was auch nicht gerade für den intellektuellen Rang heutiger linker Theorien spräche.

Zwar fehlte es in den bürgerlichen Feuilletons nicht an Distanzierung vom jugendlichen Revoluzzertum des „Unsichtbaren Komitees“, das für die Publikation verantwortlich zeichnete, und die Rezensenten verwiesen darauf, daß eine Gesellschaft, in der die öffentliche Ordnung zusammenbricht, von Mafia-clans regiert wird, anstatt neue Freiräume zu entfalten, aber eine gewisse verschämte Sympathie schillerte gleichwohl durch die Zeilen. Umgekehrt wurde dem Buch in der konventionellen linksextremen Presse, etwa der Jungle World, vorgehalten, es würde angeblich zu Recht diskreditierte Theorien von Heidegger und Carl Schmitt nach Deutschland reimportieren.

Betrachtet man die Hoffnungen, die das „Unsichtbare Komitee“ auf den zunehmenden Verfall der Staatlichkeit und künftige soziale – oder ethnisch-religiöse – Unruhen setzt, so geht der Hinweis auf Carl Schmitt an der Sache vorbei, aber seine linken Kritiker vermissen nicht ohne Grund, wie bei den intellektuellen Moden, die in den letzten Jahrzehnten als „Poststrukturalismus“ und „Dekonstruktivismus“ von Frankreich ausgingen, den orthodoxen Stallgeruch.

In der geistigen Armut des linken Mainstreams, der sich damit begnügt, dem „Neoliberalismus“ einen ideologischen Überbau zu liefern, indem er „Internationalismus“ propagiert, „Globalisierung von unten“ und „Bleiberecht für alle“ fordert, liegt eine Chance für die Rückbesinnung auf konservative und rechte Denkmodelle. Diese zeigt sich allerdings weder in der ressentimentgeladenen Maschinenstürmerei von vorgestern noch in der Affirmation von Technokratie und Ökonomismus, die Pünktlichkeit zur obersten Tugend erhebt, sondern in der Ableitung des Entschleunigungsstrebens aus einem lebendigen Zeitverständnis.

Autoren wie Ludwig Klages und Friedrich Georg Jünger haben – letzterer ohne allzu spitzfindige erkenntnistheoretische Erörterungen – auf den Gegensatz zwischen ursprünglicher, schöpferischer Zeit und der uneigentlichen „Meßzeit“ der Uhren und sonstigen Apparate hingewiesen: Während die eine durch die natürlichen Rhythmen von Tages- und Jahreszeiten sowie durch den Prozeß von Blüte, Reifung und Verfall alles Lebendigen gegliedert ist, wird die andere auf rein quantifizierende Weise in distinkte Einheiten unterteilt. Obgleich nur durch künstliche Schematisierung gewonnen, erklärt man diese Zeit für absolut und ewig gleichförmig; dabei beruht sie lediglich auf der Verabsolutierung gewisser – für unsere menschlichen Maßstäbe verhältnismäßig gleichmäßiger – Bewegungen von Himmelskörpern.

Tatsächlich unterliegen aber auch diese, wie die wesentlich exakteren subatomaren Prozesse, der Veränderlichkeit und Unschärfe und sind relativ auf den Betrachter und dessen Perspektiven. Absolute Genauigkeit bleibt ein theoretisches Postulat, dessen unreflektierte Befolgung zu Entfremdung, Verdinglichung und Automatisierung führt. Die eigentliche Zeit hingegen besteht nicht in der Wiederholung des Gleichen, dem Rattern der Maschinen, sondern in der Erneuerung des Ähnlichen, dem ein schöpferisches Prinzip innewohnt: Kein Frühling ist genau wie der andere, aber in jedem erneuert sich das Lebendige und offenbart sich das Prinzip der Erneuerung selbst.

Was ergibt sich daraus für ein konservatives Streben nach Entschleunigung? Mobilität darf als solche kein Selbstzweck sein. Der Mensch muß zwar kein „Recht auf Faulheit“ haben, wie es einst die Jusos forderten, sollte aber eines auf Heimat, selbstbestimmte Ortsveränderung und Muße zu verwirklichen suchen. Mit der Muße, die mehr ist als Nichtstun und mediale Berieselung, korrespondiert die sinnvolle Arbeit, die sich vom „Job“ als bloßem Mittel zum Daseinserhalt unterscheidet, insofern sie als Berufung aus Wesen und Veranlagung eines Menschen resultiert und auf ein nachhaltiges Produkt abzielt. Dieses ist, neben seiner Schönheit und Funktionalität, durch Dauerhaftigkeit gekennzeichnet, wird also nicht mit absichtlichen Mängeln und Sollbruchstellen auf den Markt geworfen, um immer neuen Konsum und neue sinnlose Rotationen von Produktion und Abfallerzeugung anzuheizen.

Ein solches Leben ist freilich schwer zu führen und noch schwerer als politische Norm durchzusetzen. Wer es ansatzweise führen möchte, wird sicher keine Anschläge auf Verkehrseinrichtungen der Großstadt verüben, sondern eher die Sezession aus den Metropolen wählen.

Fotos: Große Gartenschnecke: Mobilität darf als solche kein Selbstzweck sein. Das Streben nach Entschleunigung ist ein konservatives Anliegen.

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