© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/11 / 11. November 2011

In makelloser Schlachtordnung
Die italienische Gedenkstätte Redipuglia für die Gefallenen der mörderischen Isonzoschlachten des Ersten Weltkriegs macht Opfer zu Helden
Egon W. Scherer

Der Soldatentod, jahrzehntelang nur noch in Erinnerung an die beiden Weltkriege ein Thema, ist wieder vom Geschichtsbuch in die Zeitung vorgerückt. Im Dienst getötete deutsche Soldaten, „Gefallene“ im alten und auch neuen Sprachgebrauch, gibt es heute wieder in Afghanistan und anderen Teilen der Welt. Wird man sie bald wieder „Helden“ nennen, obgleich doch ihre Väter und Großväter zuletzt eher als „Täter“ hingestellt wurden? Doch „Helden“ oder „Täter“ sind Stilisierungen, meist Versuche, die Toten politisch zu instrumentalisieren. In Wahrheit sind Soldaten fast immer zuallererst „Opfer“ gewesen. Der Status des Soldaten als „Opfer“ rechtfertigt auch am ehesten, was in Europa seit der Französischen Revolution zur politischen Kultur gehört: das ehrende Gedenken an die im Kriege gefallenen Soldaten, wie es gerade im Totenmonat November alljährlich zelebriert wird.

Es gibt Orte, an denen ganz eindringlich deutlich wird, wie sehr Soldaten im Krieg zu Opfern werden können. In Deutschland denkt man da meist sofort an Stalingrad, Ort des Grauens an der Wolga, an dem sich im Zweiten Weltkrieg das Schicksal der „verratenen und geopferten“ 6. Armee entschied. Im Ersten Weltkrieg wurde „Verdun“ zum Inbegriff des Schreckens. Überhaupt müssen die „Materialschlachten“ dieses ersten großen Völkerringens, in denen oft wochen- und monatelang unter ungeheurem Kräfteaufwand um den Besitz von wenigen Quadratkilometern zerschossenen Geländes gerungen wurde, an Schrecken vielfach das Fronterleben des Zweiten Weltkrieges noch übertroffen haben. Die „Blutmühle an der Maas“ steht da nur als besonders entsetzliches Beispiel für die Leiden, die das jeweilige Vaterland seinen Soldaten abverlangt hat.      

In Norditalien markiert eine ungewöhnliche Gedenkstätte nahe der Autobahn Venedig–Triest eine solche Lokalität des Grauens: Redipuglia, Italiens größter Soldatenfriedhof, der die Gebeine von über hunderttausend gefallenen Soldaten birgt und an die Hölle der sogenannten „Isonzoschlachten“ im Ersten Weltkrieg mit insgesamt etwa 400.000 Opfern erinnert. In Deutschland wurde diese schaurige Schlachtstätte im Karstgelände bei Görz (heute Gorizia) nie so bekannt wie Verdun, die Somme oder Flandern, weil es kein deutscher Frontabschnitt war, sondern einer des verbündeten Österreich-Ungarn, und eben neben den großen Fronten im Osten und Westen nur ein „Nebenkriegsschauplatz“, an dem freilich auch Truppen aus dem Deutschen Reich operierten, so das Württembergische Gebirgsbataillon mit dem damaligen Oberleutnant und späteren Feldmarschall Erwin Rommel. 

Dabei ging es hier nicht weniger schrecklich zu als im vom unaufhörlichen Artilleriefeuer zertrommelten Trichterfeld der Westfront. In elf aufeinanderfolgenden Großoffensiven ließen die Italiener hier ihre Truppen von 1915 bis 1917 immer wieder gegen die Stellungen der österreich-ungarischen Verteidiger anrennen und machten schließlich einen Geländegewinn von nicht mehr als maximal elf Kilometern auf 35 Kilometern Frontbreite. Die Menschenverluste dabei waren ungeheuerliche, auch für die in ausgebauten Verteidigungsstellungen liegenden k.u.k.-Truppen. Man kann sagen, daß jeder Meter des gewonnenen Bodens buchstäblich mit Blut getränkt worden ist. Trotz der anfänglichen dreifachen Übermacht der Italiener blieb die Eroberung der Stadt Görz im Sommer 1916 einziger spektakulärer Erfolg dieser Schlachten. Der erstrebte Durchbruch zum nur etwa dreißig Kilometer entfernten Triest, Österreichs großer Hafenstadt an der Adria, gelang nicht. Im Gegenteil: Als in der zwölften Isonzoschlacht die Österreicher offensiv wurden, brach die italienischen Front zusammen. Einzig der Hochwasser führende Fluß Piave verhinderte, daß die k.u.k.-Truppen ganz Venetien erobern konnten. Die infolge dieses Durchbruchs in österreichische Kriegsgefangenschaft geratenen 300.000 Soldaten und eine ähnlich hohe Zahl von Deserteuren beraubten die Armee Italiens bis zum Kriegsende jeglicher Schlagkraft.

Heute erinnern zahlreiche Stellungsreste, Denkmäler, Museen und vor allem Soldatenfriedhöfe im ehemaligen Kampfgebiet am Isonzo an das grausige Geschehen. Die größte Kriegsgräberanlage ist die von Redipuglia. Sie ist monumental, eine riesige „Himmelstreppe“ aus 22, jeweils zweieinhalb Meter hohen Marmorstufen. In die Wände dieser Stufen eingebettet sind die Sarkophage von genau 39.857 identifizierten Gefallenen, deren Namen in Bronzeplatten eingraviert sind. Von der Schrecklichkeit der einstigen Materialschlachten zeugt die Tatsache, daß die weitaus meisten der hier bestatteten Toten jedoch nicht identifiziert werden konnten: In zwei Massengräbern auf der obersten Treppenstufe sind die Gebeine von über 60.000 Soldaten beigesetzt, denen kein Name mehr zuzuordnen war. Viele Gefallene beider Seiten dürften bis heute nicht geborgen sein, denn auch die Praxis, feindliche Stellungen und Kavernen zu unterminieren und zu sprengen, verschüttete ungezählte Soldaten. 

Wenn auch drei große Bronzekreuze den Gipfel des Denkmals krönen, so ist doch unverkennbar, daß diese gigantische Anlage mehr Heldengedenkstätte als Friedensmahnmal sein soll. Das verdeutlicht schon die Bezeichnung des zum Fuße der Riesentreppe führenden breiten Weges als „Via Eroica“, Straße der Helden. Dann befindet sich am Fuße der Grabestreppe, auf eigenem Sockel, ein einzelner Steinwürfel, Grabstätte des Herzogs von Aosta, des früheren Kommandeurs der 3. italienischen Armee, deren Toten die ganze Gedenkstätte gewidmet ist. Hinter diesem imposanten „Führergrab“, das aus einem einzigen, 75 Tonnen schweren Monolithen besteht, stehen in einer Reihe kleinere Steinwürfel mit den Urnen der im Kriege gefallenen Generäle des Heerführers. Der Eindruck einer geordneten Armee von Toten ist gewollt. „Die ganze Anlage soll die mächtige, makellose Schlachtordnung einer großen Einheit von hunderttausend Mann zeigen, mit ihrem Kommandanten an der Spitze“ verrät der deutschsprachige Prospekt, den man im Info-Shop im benachbarten „Haus der 3. Armee“ erhalten kann.

Um den Eindruck noch zu verstärken, ruft gleichsam von jeder Treppenstufe die Inschrift „presente presente presente“, hundertfach zu lesen als eine Art „Hier“-Ruf der Toten, wohl gemeint als Meldung zum letzten Appell, ähnlich dem nationalsozialistischen Ritual am 9. November, das in München in Erinnerung an die getöteten NS-Putschisten zelebriert wurde. Wenn man das Entstehungsdatum dieses einzigartigen Soldatenfriedhofs erfährt, weiß man auch, daß das die Handschrift nicht nur des Nationalismus, sondern des Faschismus ist: Benito Mussolini persönlich hat die Gedenkstätte von Redipuglia im Herbst 1938 eingeweiht, zum 20. Jahrestag des italienischen Sieges von 1918, dem Ende des Ersten Weltkrieges. Man mag von dieser Anlage gleichwohl beeindruckt sein, aber das ist Heldenkult, Stilisierung von gefallenen Soldaten zu Nationalheroen, die gewissermaßen noch im Tode in die Pflicht genommen, diszipliniert und in die Schlachtordnung gezwungen werden. Angetreten zur Gesinnungssteuerung nachfolgender Generationen.

Waren die Toten von Redipuglia Helden? Gewiß wollten es die wenigsten sein. Die Tapferkeit der Soldaten bestand oft viel eher im standhaften Ausharren und geduldigen Ertragen unmenschlicher Zustände als in kühnen, spektakulären Heldentaten. In den Kriegen des 20. Jahrhunderts sind die Schlachtfelder durch die Entwicklung von Waffentechnik und Feuerkraft zur Hölle geworden, weit entfernt von den „mannhaften Kämpfen“ früherer Zeiten. So ist es nur folgerichtig, daß man heute, jedenfalls in Deutschland, der gefallenen Soldaten nicht mehr – wie im Dritten Reich – an einem „Heldengedenktag“, sondern am „Volkstrauertag“ gedenkt.

Überhaupt kann auf den deutschen Soldatenfriedhöfen des Ersten wie des Zweiten Weltkrieges kaum der Gedanke an „Heldenkult“ aufkommen. Sie sind Orte der Trauer, der Mahnung, der Besinnung, vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge ganz bewußt als Gedenkstätten an den Opfertod der Soldaten angelegt. Nun besteht allerdings deutscherseits kein Grund, sich über den Totenkult anderer Völker, wie er sich etwa in der italienischen Gedenkstätte Redipuglia manifestiert, moralisch erhaben zu fühlen. Man weiß nicht, wie deutsche Soldatenfriedhöfe aussehen würden, wenn Deutschland nicht zwei Kriege hintereinander verloren, sondern gewonnen hätte.

Foto: Italienische Gedenkstätte an die Isonzoschlacht bei Redipuglia: Auch wenn die Schlacht gegen die Österreicher letztlich verlorenging, dokumentiert die Anlage die Heldenverehrung eines Kriegsgewinners

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