© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/11 / 11. November 2011

Sarg war gestern
Die Bestattungskultur wandelt sich: Der Trend geht zu Grab-WGs, Friedwäldern und Online-Steinen
Toni Roidl

Während der Volkstrauertag aus dem kollektiven Gedächtnis schwindet, werden christliche Totengedenktage wie Allerheiligen und Allerseelen zunehmend vom Kommerz-Karneval „Halloween“ überlagert. Daß der weltliche Volkstrauertag auf eine Initiative des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge von 1919 zurückgeht und erstmals im Februar 1922 begangen wurde, bis sich Staat und Kirchen auf die Verlegung ans Ende des Kirchenjahres einigten, weiß kaum jemand. Eher noch nimmt man von den alljährlichen Klagen der Diskothekenbesitzer Notiz, denen das „anachronistische“ Tanzverbot am Volkstrauertag die Feierlaune vermiest.

Und dennoch gibt es eine diffuse Sehnsucht nach spirituellem Totengedenken, die konstant wächst. „Neopagane“ (Neuheiden) zimmern sich aus Druidentum, Walpurgisnacht und Esoterik eine Privatreligion. Aus dem Supermarkt der Glaubensbekenntnisse legt sich der sinnsuchende Westeuropäer in seinen Warenkorb, was ihm gefällt: Ein bißchen Buddha, etwas Jesus und was mit Ufos. „Jeder ist sein eigenes Evangelium“, sagt die Kulturwissenschaftlerin Christine Aka von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Das schlägt sich auch in der Bestattungskultur nieder. Immer mehr Deutschen wird der Rahmen der Friedhofsordnung für ihre spirituelle Selbstverwirklichung zu eng. Neue Begräbnisformen boomen, zum Beispiel „Ruhe-Gemeinschaften“ („Grab-WG“) oder „Friedwälder“, ein Retro-Kult, der an die Totenhaine unserer Vorfahren angelehnt ist. Im westfälischen Drensteinfurt wurde mit großem Tamtam per Bürgerentscheid ein Aschestreufeld auf dem örtlichen Friedhof durchgesetzt. Kosten für die Kommune: 12.000 Euro. Genutzt hat es seitdem aber niemand. Wer ganz kreativ ist, benötigt gar keinen Friedhof, um einen Gedenkort zu schaffen. Obwohl die Zahl der Verkehrstoten schon lange rückläufig ist, nimmt die Zahl der Unfallkreuze an den Straßenrändern ebenso kontinuierlich zu, wie Aka erforschte. Die Unfallkreuze werden von Angehörigen aufgesucht und gepflegt. Ein neuer Trend dabei ist, daß manche Kreuze eine Netzadresse tragen, die über das Vorleben des Verkehrstoten informiert.

Noch einen Schritt weiter geht der Bestattungsunternehmer Carsten Glaser aus Greven im Emsland. Der Tischlermeister entwickelte ein Grabmal, das über einen integrierten Flachbildschirm verfügt, auf dem Videos, Bilder oder Texte abgespielt werden können, zum Beispiel ein Amateurfilm von Omas letztem Geburtstag. Das ist nicht billig, wird aber immer beliebter.

Die Anregung bekam Glaser aus den Niederlanden, dort ist der „Digi-Zerk“ (vom niederländischen „Grafzerk“:  Grabstein) schon länger bekannt. In England läuft das Digital-Gedenken bereits „online“: Um es weit entfernt wohnenden oder durch Krankheit verhinderten Angehörigen zu ermöglichen, an Trauerfeiern teilzuhaben, werden Beisetzungen von einer Webcam übertragen. Die Angehörigen vergeben ein Paßwort, mit dem sich der virtuelle Trauergast bei einem Pay-per-View-Dienst anmelden kann.

Nicht nur soziale Medien halten Einzug in die Bestattungsformen, sondern auch der unvermeidliche „Ökowahn“: In Schweden experimentiert man mit „klimafreundlichem“ Gefriertrocknen in flüssigem Stickstoff als „ökologische Alternative“ zum Kremieren. Dann wird wohl auch bald das Bonmot wahr, daß man tote Grüne kompostiert.

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