© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/11 / 18. November 2011

Das Medium der Moderne
Tödliche Landpartie: Vor 200 Jahren erschoß sich der Dichter Heinrich von Kleist
Manfred Naumann

Der respektablen Konkurrenz ungeachtet, ist Heinrich von Kleist bis heute der berühmteste Selbstmörder der deutschen Literaturgeschichte. Das erklärt sich nicht aus den Umständen der Tat, der Tötung seiner unheilbar kranken Schicksalsgefährtin Henriette Vogel und des unmittelbar darauf soldatisch-fachmännisch angesetzten Schusses in den eigenen Mund, ausgeführt am Nachmittag des 21. November 1811 während eines Picknicks am Kleinen Wannsee, nahe der Chaussee von Berlin nach Potsdam.

Allein die bühnenreife Dramatik dieses Abschieds hätte Kleist nämlich nicht dauerhaft im kollektiven Gedächtnis verankert. Der „Tod am Wannsee“ ist deshalb unvergessen, weil sich vor 200 Jahren einer der sprachmächtigsten Dichter der Deutschen entleibt hat, der zugleich ihr Medium der Moderne war und ist. „Kleistisch“, so notierte der unentwegt den Puls des Zeitgeistes fühlende Thomas Mann 1919 in seinem Tagebuch, könne „wohl nur heißen: modern“.

Kleists Freitod gilt darum in der Rezeptionsgeschichte, zuerst im Vorfeld seines hundertsten Todestages, dann eifrig kultiviert in der Weimarer Republik und in gesteigertem Maß nach 1945, als konsequenter Abschluß einer Existenz im Zeichen sich auflösender Gewißheiten und Ordnungen. Kleists Modernität, die des Personals seiner Dichtungen, verkörpert für eine inzwischen eintönig klingende Germanistik den tragischen Unbestand allen Seins nach dem Ende der „großen Erzählungen“ von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit.

Daß Kleist nach der Lektüre Kants den Glauben an die Erkennbarkeit der Welt verlor, legt die überdrehte Deutungsmaschinerie als archetypische Erfahrung und Prägung des europäischen Menschen nach 1789 aus. Kleist figuriert damit als Kronzeuge für die vieldeutige Struktur der Welt und allen Geschehens in ihr, für die Uneindeutigkeit der Identitäten und, zur Freude der Gender-Forschung, der Ambiguität der Geschlechterrollen. Seine Texte beurkunden die nach dem „Tod Gottes“ heraufziehende geschichtspessimistische Vernunft- und Sprachskepsis, öffnen sich dem Irrationalismus mit einer Radikalität, die ihnen das Etikett „Primärtexte des Präfaschismus“ (Bernd Hüppauf) eintrug, thematisieren die psychische Labilität, die Fragilität des im Jahrhundert der Aufklärung noch so unerschütterlich wirkenden „vernünftigen Subjekts“, die Zerbrechlichkeit der um 1800 sich gerade erst formierenden bürgerlichen Gesellschaft. Anders als viele seiner Zeitgenossen aus der romantischen Generation erlaubte sich der Atheist Kleist auch keinen hurtigen Eskapismus, keine Konversion und keine Rückkehr in den Schoß der heiligen Kirche.

Aus dem reißenden Strom der Ungewißheit scheint sich der 1799 verabschiedete Leutnant der preußischen Armee gleichwohl ein einziges Mal gerettet zu haben: zwar nicht in die Kirche, aber in die Arme der Nation als Ersatzkirche. Nach der glücklichsten Zeit seines Lebens, als freilich schon wieder scheiternder Verwaltungsbeamter in Königsberg, engagierte sich Kleist seit 1807 im Federkrieg gegen Napoleon und die französische Besatzungsmacht in Preußen. Es entstand die „Poesie des Hasses“, das ungefügige Drama der „Hermannsschlacht“, das im historischen Gewand des germanischen Aufstands gegen die Römer zum Losschlagen gegen die Franzosen anstacheln will, sowie die heute als „abstoßend“ (Ethel Matala de Mazza) denunzierten „Einschwörungen auf das Eigene“ im „Katechismus der Deutschen“ und in der politischen Agitationslyrik, die mit der Mobilmachungs-Ode „Germania an ihre Kinder“ („Zu den Waffen! Zu den Waffen!“) den schärfsten nationalistischen Branntwein kredenzt.

Dieser patriotische Textkorpus ist der ahistorischen bundesdeutschen Kleist-Philologie von jeher ein Ärgernis. Diese „Dokumente mörderischer Vaterlandsliebe“, diese „Phantasmen einer ethnischen Gemeinschaft, die sich durch Blutsbande geeint weiß und durch Blutbäder purifiziert“ (Matala de Mazza) – sie gelten als archaische Relikte im ansonsten mit der Prädikatsnote „modern“ ausgezeichneten Kleist-Œuvre. Ganz offenkundig zu Unrecht, da die Moderne nicht von der Geschichte des Nationalismus zu trennen ist.

Aber daß der Anti-Klassiker Kleist mit seinem Engagement für die „absolute Nation“, die in seiner politischen Dichtung auch jenseits von Gut und Böse steht, damit die Überzeugung von der unauflösbaren antinomischen Natur menschlicher Existenz preisgegeben hätte, scheint mehr als fraglich.

Der Wiener Germanist und gläubige Katholik Josef Nadler mochte das 1935 noch so sehen, als er behauptete, Kleist habe während seiner in geistiger Gemeinschaft mit Österreichern verbrachten Dresdner Zeit (1807/09) den „stärksten Gesinnungswandel“ vollzogen und sich das Credo des befreundeten Staatsdenkers Adam Müller zu eigen gemacht, demzufolge die wahre Freiheit in der Hingabe an die Gemeinschaft der Nation und an Gott, an die Ordnung des Diesseitigen und an die Ordnung des Jenseitigen liege – bis hin zur Identifizierung von Staatsdienst und Gottesdienst. Kleists letztes Drama, der „Prinz von Homburg“, sei der Beweis für diese „staatspolitische Entscheidung“. Und den Freitod kann Nadler dann ebenfalls zwanglos daraus ableiten, als verzweifelte Antwort eines Publizisten, der sich soeben mit Haut und Haaren Preußen und dem Befreiungskampf gegen Napoleon verschworen, der sich stabilisiert habe und mit sich endlich „im reinen“ gewesen sei, als sein König eine Militärallianz mit Frankreich einging. Drei Wochen später richtete Kleist „die Waffe gegen sich“.

Der mächtige Überhang an „Zerrissenheit“, der für die Tat am Wannsee keine Nebenrolle spielt, löst sich bei Nadler in politische Enttäuschung auf. Wäre der patriotische aber wirklich der ganze Kleist, ließe sich die ungebrochene Faszination für Generationen von Lesern und Theaterbesuchern nicht erklären, die sich im Spiegel seines gegenidealistischen Werkes ihrer eigenen Modernität versichern wollen.

Lesen Sie zu Kleist auch Seite 15

Foto: Grab des Dichters Heinrich von Kleist und seiner Schicksalsgefährtin Henriette Vogel am Kleinen Wannsee in Berlin: Bühnenreife Dramatik

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