© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/11 / 18. November 2011

Missionieren wollte er nicht
Dokumentation: Bettina Wilhelms Film „Wandlungen – Richard Wilhelm und das I Ging“ über ihren Großvater
Claus-M. Wolfschlag

Einem besonderen Nebenaspekt deutscher Kolonialgeschichte hat sich Bettina Wilhelm gewidmet. Die Filmemacherin begab sich nach China, in das ehemalige kaiserliche Pachtgebiet Tsingtao, um dort den Wegen ihres Großvaters Richard Wilhelm (1873– 1930) nachzuspüren.

Der ordinierte Theologe hatte 1899 als junger Missionar China erreicht. Doch Wilhelm sollte während seines langen Aufenthalts keinen einzigen Chinesen taufen, trat statt dessen für die Trennung der religiösen Welten ein. Statt der aktiven Missionsarbeit entdeckte er seine Begeisterung für die chinesische Kultur und vertiefte sich in ein Studium der alten Schriften. Konfuzius, die daoistischen Texte des Laotse, vor allem aber das I Ging, das Buch der Wandlungen, wurden von ihm mit Hilfe chinesischer Lehrer übersetzt und fanden dadurch erst ihren Weg in die westliche Welt. Hierfür wird er auch in China immer noch verehrt, etwa mit einer Denkmalsbüste an seiner einstigen Wirkungsstätte.

Der nun entstandene Dokumentarfilm kann die komplexe Thematik nur recht oberflächlich anreißen. Zuviel wird zu erzählen versucht, als daß eine Tiefenbetrachtung möglich wäre. Auch ist die familiäre Hauptgeschichte zu ereignisarm, um heutigen Kriterien von Spannung vollends zu entsprechen. So bleibt aber immerhin ein guter Eindruck von Leben und Werk dieses ungewöhnlichen Sinologen sowie des Lebens im ehemaligen Deutsch-China.

Bettina Wilhelm beschäftigt sich also nicht nur mit dem Lebensweg ihres Großvaters, sondern zieht den Bogen weiter. Es wird auch eine Einführung in das Werk des I Ging versucht. Zugleich dient die geschilderte Familiengeschichte als Ankerpunkt für die Erzählung der chinesischen Geschichte am Anfang des 20. Jahrhunderts. Man sieht die mühseligen Anfänge deutscher Kolonisierung in einem matschigen, verregneten Bauernnest, die nach zehn Jahren einem mondänen Lebensstil mit stattlichen Villen, solide errichteten Kirchen und Schulen gewichen sind. Der Boxeraufstand, das Ende der chinesischen Mandschu-Dynastie, der Erste Weltkrieg und die japanische Besatzung werden zwar im Schnelldurchlauf, aber dennoch eindringlich gezeigt. Die Wege zu den teils gut erhaltenen Orten des deutschen Kolonialwirkens in China wechseln sich ab mit zahlreichen Stellungnahmen von Wissenschaftlern und knappen Erläuterungen zur chinesischen Philosophie. Alte Aufnahmen aus Tsingtao werden abgelöst von spirituell geprägten Bildkompositionen und Zeitaufnahmen aktueller Straßenbilder Chinas, das erneut in einer kulturellen Umbruchphase steckt. Moderne und ganz alte Tradition gehen einmal mehr interessante Symbiosen ein.

Richard Wilhelm suchte einst nach den universellen Weisheiten der Menschheit jenseits des geschichtlichen Wandels. Nicht ganz überraschend ist somit, daß ihn in den zwanziger Jahren eine enge Freundschaft unter anderem mit Hermann Hesse, Albert Schweitzer und vor allem C.G. Jung verband. So führt dieser Dokumentarfilm auch letztlich zurück auf ein Stück mitteleuropäischer Geistesgeschichte.

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