© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/11 / 18. November 2011

Warum der Kapitalismus überleben wird
Pfad der Freiheit
Erich Weede

Jeder Taxifahrer in Prag oder Warschau verstünde den Wert der wirtschaftlichen Freiheit, aber nur wenige Intellektuelle im Westen – so lautete ein Bonmot während des Kalten Krieges. Nicht nur die öffentliche Meinung, sondern auch das Handeln der Bundesregierung wird leider von solchen Intellektuellen bestimmt.

Trotz aller Haftungsbeschränkungen gibt es vor allem im Mittelstand immer noch Unternehmer, die persönlich die Folgen von Fehlentscheidungen – nämlich beachtliche Vermögensverluste – selbst tragen. Politiker sind dagegen fein raus. Weder Angela Merkel noch ihre Minister haften für die gesamtwirtschaftlichen Schäden, die Diskriminierungsverbote oder eine schrittweise Einführung von Mindestlöhnen und die damit verbundene Beeinträchtigung der Vertragsfreiheit anrichten; für eine Klimapolitik unter Vernachlässigung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie; für den zügigen Ausbau der Euro-Zone zur Schuldenhaftungsgemeinschaft oder deren Folgen für die künftigen Steuerlasten in unserem Land.

Kaum ein Arzt hätte beim Vorwurf von Kunstfehlern so sorgenfrei leben können wie ein Politiker. Man wirft noch nicht einmal den lebenden Ex-Kanzlern – von Schmidt über Kohl bis zu Schröder – ihren Beitrag zum Aufbau des deutschen Schuldenberges oder zur Einführung einer Einheitswährung in heterogenen Volkswirtschaften oder zur Abschwächung des Stabilitätspaktes vor.

Zwar ist unseren Politikern durchaus zuzutrauen, daß sie sorglos die Überlebensfähigkeit des Kapitalismus untergraben, aber der Kapitalismus ist zäh: Er hat den Panzersozialismus der So-  wjetunion und den Vormarsch der Roten Armee bis an die Werra überlebt. Er hat den westeuropäischen Sozialstaat mit Staatsquoten bis zu über 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und Sozialtransferquoten bis zu einem Drittel überlebt. Unter der kommunistischen Partei hat der Kapitalismus in China eine Wiederauferstehung erlebt.

Er wird wahrscheinlich auch die wirtschaftspolitischen Fehler von Angela Merkel oder Nicolas Sarkozy überleben. In den USA, in der Zitadelle des Kapitalismus, sind mit der Tea Party und den Republikanern die Verteidiger der wirtschaftlichen Freiheit sogar wieder zum Angriff gegen Sozialstaatler und Kollektivisten übergegangen. Warum ist der Kapitalismus so zäh und nicht leicht unterzukriegen?

Weil der Kapitalismus so produktiv ist und allein Massenwohlstand ermöglicht. Die kapitalistische BRD war vielleicht viermal so produktiv wie die sozialistische DDR. Eine ähnliche Größenordnung hatte die Diskrepanz zwischen den kapitalistischen USA und der kommunistischen Sowjetunion. In Korea beträgt das Verhältnis der Pro-Kopf-Einkommen zwischen dem kapitalistischen und dem kommunistischen Landesteil mindestens 13 zu 1. 

Auch in China illustriert nicht nur der Kontrast zwischen dem nichtkommunistischen Taiwan und der Volksrepublik die Überlegenheit des Kapitalismus, sondern mehr noch die Geschichte der Volksrepublik China selbst. Solange Mao Tse-tung regierte und die Chinesen die falschen Ideen von Marx, Lenin, Stalin und Mao in die Praxis umsetzten, wuchs die chinesische Volkswirtschaft langsamer als die Weltwirtschaft.

Seitdem die chinesischen Kommunisten unter Deng Xiaoping und seinen ebenso kompetenten Nachfolgern ihrem Volk, den Bauern und den Unternehmern, immer mehr wirtschaftliche Freiheit zugestanden haben – man könnte auch sagen: seitdem die Chinesen zur schleichenden Einführung des Kapitalismus übergangen sind – ist die chinesische Volkswirtschaft in 25 Jahren um den Faktor 8, bis heute vielleicht um den Faktor 10 gewachsen. Berücksichtigt man die unterschiedliche Kaufkraft der Währungen, dann streiten die Experten heute nur noch darüber, ob die Chinesen schon in fünf oder erst in zehn Jahren die größte Volkswirtschaft der Welt werden.

Von China kann man nicht nur lernen, daß sich der Marsch in die Marktwirtschaft auszahlt – und umgekehrt   die Perfektionierung des Sozialismus, die vollständige Überwindung des Privateigentums und der Ungleichheit als Arbeitsanreiz, absolut tödlich ist. Man muß sich nur den sogenannten „Großen Sprung nach vorn“ ansehen, den die Chinesen unter Mao Tse-tung zwischen 1958 und 1961 wagten. Bis zu 45 von damals 650 Millionen Menschen verhungerten.

Für die These, daß ernstgenommener Sozialismus tödlich ist, hätte man auch die Zwangskollektivierung in der Sowjetunion unter Stalin oder die Schreckensherrschaft Pol Pots in Kambodscha anführen können. Seit dem Glaubensverlust selbst regierender kommunistischer Parteien besteht die Gefahr nicht mehr im radikalsozialistischen Experiment, sondern darin, dem freien Markt immer stärkere Fesseln anzulegen. Sozialismus ist heute nicht mehr Programm, sondern Resultat ordnungspolitischer Schlamperei und Ignoranz.

Wichtige Gründe für die Überlegenheit freier oder kapitalistischer – das sind zwei Wörter für dieselbe Sache – Volkswirtschaften findet man bereits bei einem der Gründerväter der Wirtschaftswissenschaften, bei Adam Smith. Am Ende des 18. Jahrhunderts erkannte er, daß die Hoffnung auf privates Eigentum einen wichtigen Arbeitsanreiz darstellt. Ihm zufolge zwingt der Eigennutz in einer Wettbewerbswirtschaft die Marktteilnehmer so zu handeln, als ob sie altruistisch und am Wohlergehen ihrer Kunden interessiert wären.

Gute Institutionen überwinden zwar nicht den Eigennutz, aber sie kanalisieren ihn und machen ihn mit dem Gemeinwohl kompatibel. Sogar die Befürwortung der Globalisierung ist in Smiths Werk schon implizit enthalten. Denn Smith hält Arbeitsteilung für produktiv und verweist darauf, daß kleine Märkte weniger Arbeitsteilung zulassen als größere. Weil der größtmögliche Markt der Weltmarkt ist, erlauben nur eine globale Arbeitsteilung und ein globaler Freihandel auch maximale Produktivitätsgewinne. Es wäre schön, wenn diese Einsichten aus dem 18. Jahrhundert endlich auch bei Attac, in der Linkspartei, bei den Grünen und in den Gewerkschaften Allgemeingut würden.

Kurz nach Lenins Machtergreifung in Rußland erkannte der österreichische Ökonom Ludwig von Mises, daß wir Privateigentum nicht nur als Arbeitsanreiz brauchen. Eine  funktionierende  Wirtschaft braucht Knappheitspreise. Die kann es auf den Inputmärkten, wo Unternehmen Arbeit, Rohstoffe oder Vorprodukte nachfragen, nur geben, wenn die Unternehmen nicht alle der öffentlichen Hand, sondern einer Vielzahl miteinander konkurrierender Privateigentümer gehören.

Das Privateigentum an Produktionskapital ist also ein unverzichtbares Merkmal des Kapitalismus und eine Voraussetzung für eine rationale Ressourcenallokation.

Als die Rote Armee die Durchsetzung sozialistischer Irrtümer bis in die Mitte Deutschlands trug, erkannte der im angelsächsischen Exil lebende österreichische Ökonom und spätere Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek einen weiteren Grund für die Überlegenheit des Kapitalismus. Gerade weil es im Kapitalismus viele miteinander konkurrierende Unternehmen und damit dezentrale Entscheidungen gibt, kann das auf Millionen Köpfe verteilte, oft nicht explizit formulierte und manchmal lokale Wissen genutzt werden.

Es gibt nicht nur das Buchwissen der Akademiker, sondern auch das Wissen selbst analphabetischer Bauern darüber, was wo gut wächst, oder das Wissen des Einkäufers im Unternehmen, wer zuverlässig die versprochenen Produkte liefert und Zusagen tatsächlich einhält. Das gesamte Wissen von Gesellschaften kann nie von einer Planungsbehörde zentralisiert werden. Es wird nur genutzt, wenn Menschen dezentral über Produktion, Kauf und Verkauf entscheiden und auch die Folgen ihrer (Fehl-)Entscheidungen tragen müssen.

Die beiden Österreicher Mises und Hayek wußten, daß der Sozialstaat rationales Wirtschaften erschwert, indem er den Einkommensverteilungsprozeß politisiert und Konsequenzen von Erfolg und Mißerfolg abmildert. Durch progressiv ansteigende Abgaben „bestraft“ er wirtschaftlichen Erfolg und „belohnt“ Mißerfolg, der ja durch Sozialtransfers oder Subventionen teilweise ausgeglichen wird.

Kapitalismus ist ein graduelles Phänomen. Selbst in sozialistischen Gesellschaften hat es beispielsweise mit den Schwarzmärkten immer noch freiheitliche Elemente gegeben. Die wirtschaftliche Freiheit, also die Vitalität des Kapitalismus, läßt sich anhand von Staatsquoten, Sozialtransferquoten, Freihandelsbeschränkungen, Regulierungen, staatlichen Angriffen auf das Privateigentum messen. Allgemein gilt, daß freiheitliche Volkswirtschaften wohlhabender als weniger freiheitliche sind, daß freiheitliche Gesellschaften schneller als andere wachsen, daß freiheitliche Gesellschaften im Durchschnitt oder auf lange Sicht weniger als andere unter Arbeitslosigkeit leiden. Man kann sogar zeigen, daß selbst solche Staaten, die ihren Bürgern die wirtschaftliche Freiheit verwehren, von deren Existenz anderswo profitieren. Diese Einsicht – vor Jahrzehnten vom Nobelpreisträger Hayek formuliert – läßt sich heute auch ökonometrisch belegen.

Was nach dem Kapitalismus kommt, ist damit klar: eine zumindest relative Verelendung. Je mehr ein Land den Kapitalismus beschneidet, desto mehr fällt es hinter die Länder zurück, die das nicht tun. Wie man am Beispiel der DDR sieht, muß das nicht den massenhaften Hungertod bedeuten. Aber Anreize zur „Republikflucht“ wird der Sozialismus auch in Zukunft vermitteln, vor allem für Leistungsträger.

Das Ausmaß der wirtschaftlichen Freiheit beeinflußt neben dem materiellen Lebensstandard auch die Überlebensfähigkeit der Demokratie. Je ärmer und wirtschaftlich unfreier ein Land ist, desto geringer sind die Überlebenschancen der Demokratie. Ohne Kapitalismus kann es weder Wohlstand noch Wachstum geben. Nur eine freie Wirtschaft verspricht abgewählten Politikern attraktive Berufsfelder nach dem Machtverlust. Für die Stabilität von Demokratien ist das wichtig. Wo kein vom Staat unabhängiger Reichtum existiert, ist die Presse- und Meinungsfreiheit in Gefahr.

Weder Demokratien noch irgendein anderes politisches System sind gegen Legitimitätsverlust durch Fehlentscheidungen und rapiden Leistungsabfall gefeit. In einem weltwirtschaftlich schwierigen Umfeld werden die deutsche oder andere europäische Demokratien nicht in erster Linie durch rechts- oder linksradikale Wirrköpfe, sondern durch Fehlentscheidungen gewählter, eloquenter und „gemäßigter“ Politiker gefährdet.

Nur Amtsinhaber können großen Schaden anrichten. Wer heute den Kapitalismus gefährdet, gefährdet morgen die Demokratie und übermorgen Europas Einheit. Welche Europäer werden sich mit einem langsam verelendenden Europa noch identifizieren wollen, das den Staatsbankrott nur durch Inflation abwenden kann? Wenn die europäischen Demokratien eine Zukunft haben sollen, dann müssen sie wirtschaftlich erfolgreich sein – statt per Sozialstaat auf nationaler und Transferunion auf supranationaler Ebene immer wieder Fehlentscheidungen und Mißerfolge zu belohnen.

 

Prof. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, Dipl.-Psychologe und Politologe, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über Europas Weg in die Transferunion („Die Wohlfahrtsfalle“, JF 14/11).

Weg vom Raubtierkapitalismus und zurück zum Rheinischen Kapitalismus – das forderte vor drei Wochen der Soziologe Jost Bauch an dieser Stelle. Sein Kollege Erich Weede hält dagegen: Wir haben eher zuwenig Kapitalismus als zuviel.

Foto: Globale Marktwirtschaft: Der Kapitalismus hat zu weltweiten Wohlstandsgewinnen geführt – ordnungs-politische Fehltritte könnten ihn gefährden

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