© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/11 / 18. November 2011

Frauenbewegung bodenlang
Der Höhepunkt der Suffragetten-Bewegung vor hundert Jahren
Ellen Kositza

Fortschrittsskeptiker nennen es das „Krokodil-Syndrom“: Man reicht ihnen, der Klasse der willigen Aufsteiger, den bislang Rechtlosen, den Nicht-Gleichgestellten, den kleinen Finger, und – schnapp! – packen sie die ganze Hand. Mindestens! Alle sozialrevolutionären Bewegungen begannen mit Minimalforderungen, die aus heutiger Sicht nur als mindestes Gebot der Gerechtigkeit angesehen werden können. Alle einst Deklassierten, die Schwarzen, die Arbeiter, die Ausländer, die Behinderten, profitieren heute von Zeiten, in denen ihr „Anderssein“ als Stigma galt, das sie damals sicht- und spürbar abwertete.  Heute haben sie ihre einstige Subalternität in einen Bonus verwandeln können. Das rechte Maß, so scheint es, ist oft auf der Strecke geblieben.

Das gilt nicht nur für Minderheiten, sondern auch für die, die einst „die Hälfte der Welt“ für sich einforderten, weil sie eben diese Hälfte repräsentierten: die Frauen. „Frauenpolitik“ mit all ihren Blüten ist heute demokratische Essenz. Vor 100 Jahren sah nur ein europäisches Land, Finnland, ein Frauenwahlrecht vor, in anderen Ländern wurde es mit unterschiedlicher Vehemenz gefordert. Nirgends tobten die Kämpfe radikaler als in England, das auf eine vergleichsweise lange Tradition des politischen und gesellschaftlichen Liberalismus zurückblicken konnte. Taten statt Worte, „deeds not words“, lautete die Parole, unter der die kämpferischen Suffragetten (von lateinisch suffragium, Stimmrecht) an die Öffentlichkeit traten.

Im Vergleich zu den hosenbeanzugten Quotenfrauen der Ära Merkel ein atemberaubendes Bild: Eine Kundgebung im Londoner Hyde Park 1906 unterstützen durch ihre Anwesenheit 250.000 Damen in viktorianischen Gewändern, phantasievoll behütet, größtenteils aus besten Verhältnissen. Das Aktionsrepertoire der Wahlrechtlerinnen war in jenen Jahren zwar bereits eigen, doch immerhin artig: die Protagonistinnen der bürgerlichen Bewegung führten Versammlungen durch, klebten Plakate, störten Veranstaltungen prominenter Politiker.

Die Bewegung spaltete sich sukzessive auf, hauptsächlich in eine moderate, konstitutionelle Vereinigung, die mit Petitionen, Pressemitteilungen und durch regen Kontakt zu Parlamentsmitgliedern für ihr Anliegen warb, und in eine zunehmend radikalisierte Front, die Women’s Social and Political Union (WSPU), die bereits 1903 von Emmeline Pankhurst (1858–1928) gegründet worden war. Pankhurst war Witwe und Mutter von fünf Kindern; die beiden Söhne starben vor der Radikalisierung, die Töchter wurden in unterschiedlichem Ausmaß zu teils hartgesottenen Mitkämpferinnen. Vor allem Christabel unterstützte den radikalen wie elitären Kurs der Mutter. Nachdem 1910 eine Gesetzesinitiative zur Stärkung der Frauenrechte gescheitert war, griffen die Frauen der WSPU zu illegalen Mitteln. Die bereits öffentlichkeitswirksame Lobbyarbeit wuchs sich zum Guerillakampf aus, die WSPU verstand sich „als Armee im Krieg“ (Michaela Karl).

Die Damen – es waren zum größten Teil ladies der Mittel- und Oberschicht, zahlreiche steinalte Frauen beteiligten sich – bewaffneten sich mit Pflastersteinen, schmissen Schaufenster ein, bewarfen Politiker mit toten Katzen, brannten mit Säure Parolen in Golfplatzrasen, zündeten gar Bomben. 1910 kam es zu blutigen Krawallen im Unterhaus, ein Versuch der Suffragetten, bei einer Londoner Massendemonstration im November 1911 das Regierungsgebäude zu stürmen, scheiterte. Ein fanatischer männlicher Mitstreiter verletzte Schatzkanzler David Lloyd George im gleichen Jahr durch den Wurf einer Messingdose, zwei Jahre später ging Mutter Pankhurst für einen Bombenanschlag auf Lloyd Georges Landsitz hinter Gitter.

Die in- und ausländische Öffentlichkeit, die für die aufständischen Frauen bis dahin nur mitleidiges Lächeln und Kopfschütteln erübrigte, fragte nun scharf nach, wo der logische Zusammenhang zwischen dem Inbrandsetzen von Briefkästen und dem Wahlrecht sei. „Nur ein völliger Mangel an Geschichtskenntnissen entschuldigt diese Verwunderung“, beschied Emmeline Pankhurst mit gleicher Schärfe, denn „jeder Fortschritt in Hinblick auf politische Freiheiten wurde durch Gewalttaten und Zerstörung von Eigentum errungen“. In jenem Jahr saßen etwa tausend Frauen der Bewegung hinter Gittern. Hungerstreik galt als probates Mittel der Gegenwehr, hunderte Frauen mußten zwangsernährt werden.

Die deutsche Frauenbewegung reagierte gespalten. Während die bürgerlich-radikalen Kämpferinnen um Lida Gustava Heymann und Anita Augsburg sich euphorisiert zeigten, verurteilte die konservative Frauenrechtlerin Helene Lange die britische Guerillataktik. Die WSPU, unterstützt durch wohlhabende Fördererinnen, stand auch intern unter Kritik, da sie anders als etwa die 1913 (von Sylvia Pankhurst) gegründete kommunistische Vereinigung East London Federation of Suffragettes nur „votes for ladies“ forderte, das Wahlrecht für Frauen, die über Besitz und Einkommen verfügten. Immerhin waren derzeit auch nur ein Drittel der britischen Männer stimmberechtigt. Den arbeiterbewegten Frauenrechtlerinnen galt das klassenbegrenzte Eintreten der Suffragetten um Emmeline Pankhurst als „Individualsexismus“.

Mit Beginn des Weltkriegs und der massenweisen Abwesenheit von Männern profitierten die Wahlrechtlerinnen von einem gewissen Meinungsumschwung zugunsten von Frauen in der Öffentlichkeit. Emmelines Organisation schloß einen Burgfrieden mit der Regierung. Im August 1914 wurden sämtliche Inhaftierte der Bewegung entlassen, auf neuerlichen Kundgebungen proklamierte man patriotische Parolen: „We demand the right to serve!“ 1915 wurde der Name eines der frauenrechtlerischen Leitmagazine The Suffragette geändert in ein vaterländisches Britannia. Die 1917 von Emmeline gegründete Women’s Party verband feministische Programmatik mit Forderungen, die heute als rassistisch gelten dürften. 1918 trat sie der konservativen Partei bei. Ab jenem Jahr erhielten britische Frauen das passive Wahlrecht (in Deutschland bereits das allgemeine), erst ab 1928, dem Sterbejahr Emmelines, durften alle Frauen im Königreich wählen.

Fotos: Titelseite „The Suffragist“, der führenden Zeitschrift der US-Frauenbewegung vom 2. Juni 1917: Dem mitleidigen Kopfschütteln für die Suffragetten folgten schon bald politische Rechte; Suffragetten-Demonstration in Now York 1912: Möglichkeiten zur politischen Partizipation für Frauen gab es seinerzeit einzig in Finnland

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