© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

Morgen kann es wertvoll sein
Messietum: Wenn der Ordnungssinn überfordert ist
Richard Stoltz

Als vor Jahren der Begriff des Messie-Syndroms aufkam, reagierte mancher Berichterstatter mit plumper Ahnungslosigkeit: Warum psychiatrische Begriffe vergeuden an Menschen, die „einfach nur zu faul zum Aufräumen“ wären, fragte eine Tageszeitung, die inzwischen zu Recht verendet ist. Nun, dieser psychiatrische Begriff ist nötig, weil – im Gegensatz zur üblichen Unordentlichkeit und Schlamperei – das „Messie“-Syndrom (abgeleitet vom englischen „mess“: Unordnung) verbunden ist mit pathologischem Sammeln, zwanghaftem Horten von Gegenständen, egal ob verwendbar oder nicht. Und das in einer Quantität, die jeden Ordnungssinn überfordert, die Wohnung zuletzt in eine Müllhalde verwandelt.

Allein in Deutschland sind nach Angaben von Selbsthilfegruppen etwa 1,8 Millionen Menschen von dieser psychischen Erkrankung betroffen. Eine Zahl, die das Messie-Phänomen auch für Zeitdiagnostiker interessant macht. Glaubt man doch, daß Psycho-Krankheiten mit Breitenwirkung zeitliche Mißstände auf die Spitze treiben, der Erkrankte folglich als sozialer Seismograph taugt.

So erklärte Albrecht von Lucke, Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik, das Messietum zum „Symptom der Moderne“: Menschen, die ihre Wohnungen derart zustapeln, daß nur noch wenige „Höhlengänge“ frei bleiben, die noch Verwertbares nicht vom Unverwertbaren unterscheiden, seien Symptom eines überproduktiven Kapitalismus. Der werfe nämlich alle Kategorien von „wertvoll“ bis „wertlos“ über den Haufen: Ihm ist gut, was Geld bringt. So könnten zum Beispiel alte Vinylschallplatten plötzlich zu „wertlosem Kram“ erklärt werden, während Trash-TV als Quotentreiber in der Wertschätzung steigt. Wenn Wert und Unwert ausschließlich durch irrationalen Markterfolg definiert ist, bleibt als Resulat Irritation: Alles muß bewahrt werden, denn morgen kann es wertvoll sein. Oder, in direkter Analogie zum Messie: Selbst der „letzte Müll“ kann bald Geld bringen.

Diese irrationale Auf- und Abwertung von Dingen und Fähigkeiten, der zunehmende Flexibilitätszwang, der Druck, ständig loszulassen und sich umzubauen, provoziere als Gegenreaktion ein zwanghaftes Festhalten, ein Kontinuität suggerierendes Verwahren.

Dem ließe sich hinzufügen, daß solches Horten sich auch als irrationale Gegenreaktion auf die universelle Wegwerfgesellschaft deuten läßt. Die verlangt einerseits, Materialien, Beziehungen, Bindungen regelmäßig zu entsorgen, sich permanent auf den „neuesten Stand“ zu begeben und legt ein ständiges Verabschieden im Namen der Flexibilität nahe, aber steht dem größten Loslassen überhaupt, dem Tod, völlig sprachlos gegenüber. Messiehaftes Festhalten an Kostbarem und Wertlosem wäre demnach allgemeiner Widerstand gegen die Vergänglichkeit. Schließlich wird die von der Gegenwartskultur nicht gemildert, sondern kontinuierlich beschleunigt.

Alle bisherigen Messie-Definitionen beziehen sich ausschließlich auf den materiell-analogen Bereich. Inzwischen aber, so glaubt von Lucke zu erkennen, gebe es eine „Messie-Bohème“, die endlosen Datenmüll – mehr oder weniger unsortiert – auf Chips und Festplatten stapelt. Die keine Grenze mehr zwischen wichtiger und unwichtiger Information zieht. Die endlose Digitalsammlungen, Archive von Texten, Filmen, Musik, usw. anlegt, ohne Urteilskraft über deren künftige Bedeutung für die eigene Existenz.

Natürlich weiß von Lucke, daß ein Runterfahren der Produktionspirale unmöglich und eine Werte-Diktatur kaum wünschenswert ist. Deshalb lautet sein Therapievorschlag: Die kapitalistische Gesellschaft müsse „die permanenten Erlebnisse des Scheiterns und des Verlustes durch andere Formen der Anerkennung kompensieren“. Sonst würden „in Zukunft immer mehr Menschen Heil und Halt im eigenen Müll suchen – dem letzten Hort ihter Sicherheit“. Den Gefallen dürfte ihm die „kapitalistische Gesellschaft“ kaum tun. Und dazu hat sie, wie zu zeigen ist, einen „guten“ Grund:

Bei der These der digitalen Überflutung schneidet sich von Luckes Theorie mit der Diagnose des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher. Der weinte in seinem Sachbuch „Payback“ (2010) darüber, daß die Datenflut unüberschaubar, vor allem unbewertbar geworden sei: Was ist von alldem wichtig? Was unwichtig? Das fragt jemand, der als Zeitungschef diese Wertung aus eigener Charakterstruktur vornehmen sollte. Leider verfügt er über keine. Ein Problem, das Schirrmacher mit analogen und digitalen Messies teilt.

Denn im Gegenzug fällt auf, daß Menschen mit fester Persönlichkeitsstruktur, Urteilskraft und Kreativität leidenschaftliche Sammler sein können (Picasso, Warhol beispielsweise), aber trotzdem nicht zu hilflosen Messies mutieren. Eben weil sie den größten Warenstrom mit ihrer Kraft durchdringen, ihm Gegenstände gezielt entreißen und selbst Werke von Dauer hervorbringen. Eine schwache Psyche hingegen ist überfordert. Aber dieser schwache Charakter ist kein „Unfall“, er ist gewollt! Denn innere Strukturlosigkeit, geschmeidige Konformität ist für das Konzept der „reibungslosen Produktion“ unverzichtbar. Schulen degradieren Kinder zu Mastschweinen an faktenorientierten Stopftrichtern. Eine Anti-Bildung, die bereits in Vorschulprojekten diverser Kindergärten beginnt, und dank Bologna-Reform auch die Universitäten erobert. Genährt durch das Märchen von der „Wissensgesellschaft“ hält jeder sein „Know-how“ für potentielles Kapital. Tatsächlich aber schimmeln im Gedächtnis des Auszubildenden Berge von Wissensmüll unbearbeitet, unstrukturiert vor sich hin: Intellektuelles Messietum, seit früher Kindheit gefördert.

An Stelle der Bildung, im Sinne von (Heraus-)Bildung der Persönlichkeit, mit eigenem Standpunkt, eigener Urteilskraft und selbstsicherem Wollen, ist der Schulabsolvent ein Verunsicherter, zu jeder Prostitution bereit. Dazu paßt, daß die britische Regierung derzeit die Universitätssubvention bei Naturforschung kürzt, bei Geisteswissenschaften jedoch gänzlich streicht. Da werde doch nur „Unnötiges“ gelehrt (wie beispielsweise die Strukturierung von Erkenntnis und Wissen): In dem Punkt scheint sogar die „kapitalistische Gesellschaft“ zu wittern, was ihr „wichtig“ ist, und was nicht.

Kurzum, die moderne Gesellschaft hat kein Interesse, die Ursachen des Messietums zu bekämpfen. Im Gegenteil, sie ist auf die Produktion intellektueller Messies angewiesen. Erst wenn die geistig-seelische Strukturlosigkeit sich auf die Wohnung auswirkt, sich „materialisiert“, erfährt sie individuelle Behandlung. Die Weisheit des delphischen Orakels, „Erkenne dich selbst“, ist Grundlage und Voraussetzung aller (Persönlichkeits-)Bildung. Sie muß am Beginn des Lebens stehen, nicht erst in der Therapie, wenn es zu spät ist.