© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

Akademische Lehrfreiheit im Kaiserreich am Beispiel Otto Baumgarten
Zweierlei Diskussionskultur
(wm)

Der Theologe Otto Baumgarten (1858–1934), ein Vetter Max Webers, war kein bedeutender Gelehrter, aber ein aktiver Hochschul- und Kirchenpolitiker, der nach 1919 den Wechsel von den Nationalliberalen zur linksliberalen DDP vollzog, sich dort für den „Brückenschlag zur SPD“ einsetzte und noch als Emeritus in den Vorstand des „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“ einrückte. Diese Biographie sicherte ihm nach 1968 einen bescheidenen Nachruhm, da er als Vertreter einer „alternativen“ liberal-demokratischen deutschen Gelehrtentradition exponiert wurde. Das Bild vom „modernen Theologen“ hat vor allem Hasko von Bassis Dissertation von 1988 dauerhaft geprägt. Auch sein jüngstes Baumgarten-Porträt (Christiana Albertina, 72-2011) perpetuiert diese Präsentation eines vorbildlichen Nonkonformisten. Eher unfreiwillig offenbart es jedoch auch, wie groß die geistigen Freiräume und wie pluralistisch die Diskussionskultur des Kaiserreiches im Vergleich zur heutigen Bundesrepublik waren. Denn anders als vor kurzem bei Martin van Creveld in Trier (JF 45/11) wurde die akademische Lehrfreiheit des Kieler Professors Baumgarten gegen kirchliche Forderungen nach Amtsenthebung des linken Theologen dadurch verteidigt, daß man ihn 1903 demonstrativ zum Rektor der Universität wählte. www.wachholtz.de