© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/11 / 02. Dezember 2011

Planlos am Hindukusch
Afghanistan: Eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik untersucht die Strategie der Bundeswehr und ihrer Verbündeten
Bernd Bredenkötter

Die Gewalt war 2011 schlimmer als je zuvor, urteilte die Mission der Vereinten Nationen in Afghanistan im September. Ganz im Gegenteil, konterte die internationale Schutztruppe Isaf, die Lage verbessere sich seit einem Jahr.

So widersprüchlich beschreiben verschiedene Stellen die Lage am Hindukusch. In einer aktuellen Studie geht die Stiftung Wissenschaft und Politik daher der Frage nach, ob diese Unklarheit an fehlenden konkreten Zielen liegt. Unter dem Titel „Strategielos in Afghanistan“ analysiert der 31 Jahre alte Politikwissenschaftler Philipp Münch „die Operationsführung der Bundeswehr im Rahmen der International Security Assistance Force“. Münch sieht eine Lücke zwischen der allgemeinen Doktrin der Aufstandsbekämpfung und den konkreten taktischen Maßnahmen und Operationen. Die Strategie, um diese Lücke zu schließen, müßte für den konkreten Fall Afghanistan den gewünschten Endzustand des ganzen Landes beschreiben, und zwar detailliert und nachprüfbar. Danach müßten die nötigen Schritte und Mittel bestimmt werden – nur so sei ein Erfolg möglich. Den Ursprung der Strategielosigkeit ortet Münch in der Struktur der Afghanistan-Mission. Auf den obersten Ebenen der Nato gelte das Einstimmigkeitsprinzip, was die Konkretisierung der Pläne verhindere.

Münchs Thesen sind auch für Gegner des Einsatzes problematisch. Letztendlich verspricht er den Sieg, wenn man nur den richtigen Plan hätte und entsprechend Mittel bekäme. Er ignoriert dabei, daß auch Militärs mit den verfügbaren Mitteln haushalten müssen und nicht die Mittelanforderungen beliebig an ihre Pläne anpassen können.

Im Grunde geben sich die Isaf-Generäle und die Schöpfer der Aufstandsbekämpfungsdoktrin Coin (Counterinsurgency) bescheidener als Münch: Erfolg mit einer einmalig festgelegten, in Details gehenden Strategie wird in der Coin-Doktrin als unmöglich eingeschätzt. Vielmehr komme es darauf an, eine flexible Struktur einzurichten, die sehr unterschiedliche Kräfte integriert und jederzeitig anpassungs- und lernfähig bleibt. Der Teilverzicht auf eine Strategie wird so zum integralen Bestandteil der Doktrin. Die aktuelle Coin-Doktrin wurde vom amerikanischen Militär nach den Erfahrungen im Irak entwickelt und Ende 2006 offiziell veröffentlicht.

Münch kritisiert die Doktrin als wenig konkrete, teils widersprüchliche Anhäufung einzelner Taktiken. Dieser Vorwurf trifft partiell – die Doktrin macht die Wahl einzelner Taktiken stets von der situationsabhängigen Einschätzung durch die militärischen Führer abhängig. An sie stellt Coin einen hohen Anspruch. Dieser Anspruch erklärt vielleicht die von Offizieren geäußerte Kritik.

Die Doktrin ist aber weniger diffus als von Münch unterstellt. Sie berücksichtigt etliche von ihm als nicht gelöst oder bedacht bezeichnete Probleme, gerade weil sie flexibel ist. So kritisiert er beispielsweise die Zahl der Soldaten in den Provinzen Baghlan und Kundus als zu gering. Er rechnet vor, es kämen auf 29.125 Quadratkilometer nur „zweimal 650 Mann“ „von denen aber nur jeweils 120 als Infanteristen oder Panzergrenadiere unmittelbare Sicherungsaufgaben übernehmen“. Der erste Fehler dieser Rechnung besteht darin, die Zahl der Soldaten pro Quadratkilometer zu berechnen. Die Coin-Doktrin orientiert sich an der Bevölkerung, nicht am Gelände, das in Afghanistan oft menschenleer ist. Rund 20 Aufstandsbekämpfer auf 1.000 Einwohner gelten als angemessen. Zweitens können die Bundeswehrsoldaten nicht isoliert betrachtet werden. Die Aufstandsbekämpfung ist als Gemeinschaftsaufgabe unterschiedlicher Truppen und ziviler Akteure definiert – weite Strecken der Doktrin befassen sich mit der Koordination dieser Kräfte –, und so müßte man die anderen Isaf-Truppen und die afghanischen Sicherheitskräfte einrechnen. Auch nach dieser Zählweise wäre der Kräfteansatz „auf Kante genäht“.

Münch merkt zutreffend an, daß die Bundeswehr Defizite in der Aufstandsbekämpfung zeigt. So wird Präsenz mit Wirkung verwechselt, weitgehend reaktiv agiert oder die Kontinuität im Nachrichtenwesen vernachlässigt. Auf die fehlende Strategie kann man das aber nicht schieben, denn andere Isaf-Teile vermeiden diese Fehler beziehungsweise lösen diese Aufgaben weit besser – in Einklang mit der Doktrin.

Foto: Deutsche Soldaten im Feldlager Kundus: Hoher Anspruch an militärische Führer

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