© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/11 / 02. Dezember 2011

„Die Christen sind unsere Brüder“
Ägypten: Im Zuge der Wahl setzt die Partei der Muslimbrüder auf Liberalität und Brüderlichkeit mit den Kopten
Marc Zöllner

Er gilt als besonnener Charismatiker unter Ägyptens Intellektuellen. Doch wenn Rafiq Habib von seiner Heimat zu sprechen beginnt, verklären sich seine Augen und ein Lächeln ziert die schmalen Lippen unter dem streng gestutzten Schnauzer. Zwanzig Jahre lang erforschte der studierte Psychologe den Nationalcharakter des Nilstaates und publizierte mehrere Bücher über die Rolle der koptischen Minderheit in islamischen Gesellschaften. Acht Monate nach dem Sturz des Diktators Husni Mubarak möchte Rafiq Habib nun seine Erkenntnisse politisch umgesetzt wissen.

Überschattet von gewalttätigen Protesten im Zentrum Kairos, in deren Verlauf Dutzende Tote zu beklagen waren (JF 48/11), sind die Wahlen in Ägypten in vielerlei Hinsicht keine gewöhnlichen. Bereits in der Wahlnacht vom 28. November beklagten Helfer vermehrt Unregelmäßigkeiten und Bestechungsversuche. Manche Wahllokale öffneten erst vier Stunden nach Urnengang, an anderen bildeten sich ob des regen Andranges Warteschlangen von bis zu einem halben Tag. Selbst für arabische Verhältnisse wird die Wahlbeteiligung als extrem hoch eingeschätzt, ebenso die Zahl der Kandidaten: Über 50 Parteien sowie rund 6.600 Einzelbewerber ringen um die Gunst der Ägypter und einen der 508 vorhandenen Sitze. Die Wahl selbst scheint freilich schon entschieden: Die islamische Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP), so Meinungsforscher am zweiten November-Wochenende, käme allein bereits auf 36 Prozent, gefolgt von der nationalliberalen Wafd-Partei (26 Prozent). Die FJP, das ist der politische Arm der Muslimbruderschaft, Rafiq Habib seit August ihr stellvertretender Vorsitzender.

Habib versteht es exzellent, konservative wie religiöse Wählergruppen an sich zu binden. Die Angst vor einer Säkularisierung, vor einer Verwestlichung Ägyptens sitzt tief vor allem in den ländlichen Regionen des Landes. Rafiq Habib weiß aufzumuntern. „Die ägyptische Gesellschaft“, so der seit Jahren aktive Muslimbruder, „wird als islamische Gesellschaft fortbestehen und die Christen müssen zu ihrer gemeinsamen ägyptisch geprägten konservativen Identität zurückfinden.“ Slogans, die Wirkung zeigen. Noch im März befand sich die FJP Umfragen zufolge bei gerade einmal zwölf Prozent. Mit Habib als intellektuellem Zugpferd konnte sie ihre Beliebtheit innerhalb von nur neun Monaten verdreifachen.

Der radikale Wandel in Ägyptens Parteienlandschaft schreckte nicht nur Liberale, Sozialisten und die Kopten, deren Situation sich in den letzten Monaten dramatisch verschlechtert hatte, auf. Um eine Spaltung des Volkes an der Bruchstelle der Religionen, des Islam und des Christentum zu verhindern, verbot die staatliche Wahlkommission Ende Oktober, insbesondere in Hinblick auf die von den Muslimbrüdern verwendete Parole „Islam ist die Lösung“, unter dem Hinweis der Verfassungsfeindlichkeit sämtliche glaubensbezogene Forderungen und Symbole auf Wahlplakaten. Eine Gelegenheit, welche die FJP wiederum für ihren Imagewechsel auszunutzen verstand.

Um eventuellen Verbotsverfahren aus dem Weg zu gehen, übt sie sich nun selbst, Stimmen im säkularen Spektrum zu gewinnen. „Wir bringen Gutes für Ägypten“, so ihr neuer Slogan. Auch Habib beschwichtigt persönlich: „Muslime und Christen haben dieselbe Kultur, dieselben Werte“, so der 52jährige in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Arab West Report. „Sie vereint der selbe nationale Charakter.“ Der FJP-Politiker weiß, wovon er spricht. Nicht nur durch seine Forschungsarbeiten. Denn obwohl bekennender Anhänger der Muslimbruderschaft, ist er keinesfalls Islamist, sondern von Geburt her praktizierender Protestant mit berühmtem Stammbaum: Sein Vater, Samuel Habib, leitete von 1980 bis 1997 als Präsident der Koptisch-Evangelischen Kirche Ägyptens die mit rund 750.000 Mitgliedern größte christliche Gemeinde des Nahen Ostens.

Mit seinen Wünschen steht Habib nicht allein. „Wir sind verpflichtet, Christen zu respektieren“, beschwichtigt der FJP-Vorsitzende Mohamed Morsy in einem Interview mit dem Magazin al-Majalla. „Wenn wir mit unseren christlichen Brüdern nicht verhandeln und keine gleichen Rechte für Muslime wie für Nichtmuslime gewähren, dann verletzen wir den Islam.“

Der heikle Spagat der Muslimbrüder zwischen der Abgrenzung von radikalislamischen Bewegungen, der Programmatik einer konservativen islamischen Demokratie sowie den zaghaften Versuchen, auch auf säkularem Boden Fuß zu fassen, bietet jedoch auch seine Tücken. So verlor die FJP allein seit der Urteilsverkündung der Wahlkommission fast vier Prozentpunkte ihrer Stimmen an die salafistische Nour-Partei, einer von Saudi-Arabien finanzierten extrem-islamistischen Organisation, welche im Vakuum des religiös-rechten Randes der ägyptischen Gesellschaft nun auf fast zehn Prozent der Wähler hoffen darf. Die mit den Muslimbrüdern verbündete Wafd-Partei jedoch profitierte vom Schachzug Rafiq Habibs und raubte sowohl den Liberalen von der Partei Freier Ägypter als auch der bei den Protesten gegen Husni Mubarak auf dem Tahrir-Platz namhaft gewordenen „Koalition der Jugend der Revolution“ je mehrere Prozentpunkte.

Doch wie die Parlamentswahl auch ausgehen mag, fest steht, daß sich die Muslimbrüder in ihrer Integrität noch zu beweisen haben. Das Versprechen großzügiger Wohlfahrtsprogramme für die Ärmsten mag vor Abstimmungen dienlich sein, ohne die Wiederbelebung der durch die Revolution maroden Tourismusindustrie jedoch mangelt es allenorts an Arbeitsplätzen sowie an wichtigen Devisen zur Haushaltskonsolidierung. Dazu steht nicht nur die Lösung des künftigen Umgangs mit dem Nachbarn Israel noch aus, die westliche Wertegemeinschaft wird vor allem auch kritisch auf den tatsächlichen Umgang der demnächst regierenden Muslimbrüder mit Kopten wie Protestanten blicken. Es bleibt also abzuwarten, ob das Versprechen Rafiq Habibs, man wolle „die Zukunft nutzen, um Christen und Muslime ihre geteilten Werte neu entdecken sowie gemeinsam eine islamische Kultur wiederaufbauen zu lassen“, nicht nur Wahlpropaganda bleibt.

Foto: Ein Mitglied der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei klärt Wählerinnen auf: Statt „Islam ist die Lösung“ nun ein „Wir bringen Gutes für Ägypten“

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