© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/11 / 02. Dezember 2011

Das richtige Leben im falschen
Inseln der Eigentlichkeit im Meer der Simulation: Vom Unbehagen an Entfremdung und Vernutzung
Baal Müller

Spricht man von einem „Grünbürger“, meint man damit gewöhnlich – und in Abgrenzung vom Birkenstocksandalen tragenden Müsli-Grünen der achtziger Jahre – einen bessergestellten Bewohner des großstädtischen Speckgürtels, der dem Klischee nach Latte macchiato und Bionade trinkt, in der Medienbranche oder anderen „kreativen“ Berufen arbeitet, bei seinen Einkäufen Bioprodukte bevorzugt, sich im Rahmen allgemein akzeptierter Vorgaben gesellschaftlich „engagiert“ und sich etwa für Multikulturalität und „längeres gemeinsames Lernen“ an Schulen ausspricht, solange seine eigenen Kinder nicht davon betroffen sind.

Man kann in der Verbindung des Grünen mit dem Bürgerlichen aber auch etwas anderes erahnen, das sich hinter dem Schlagwort von der „Nachhaltigkeit“, der wachsenden „Landlust“ oder der „Sehnsucht nach dem Echten“ – so das aktuelle Titelthema des Wirtschaftsmagazins brand eins – verbirgt. Das Unbehagen an der ökonomisch-technischen Zivilisation, an entfremdeten Arbeitsprozessen, der Vernutzung der Landschaft, dem Diktat der Uhr und dem sinnlosen Wandel der Moden ist so alt wie diese Zivilisation selbst – in neuerer Zeit kam noch das Mißtrauen gegenüber dem selbstreferentiellen Politikbetrieb und den Massenmedien hinzu.

Anders als in früheren Zeiten verbietet sich heute aber die Verklärung vormoderner Zustände oder des „edlen Wilden“, der zum Adressaten unserer Entwicklungshilfe oder Objekt unserer „friedenssichernden Maßnahmen“ geworden ist. Der Geist der Aufklärung reduzierte sich auf einen leerlaufenden Fortschrittsbegriff, auf seine skeptische Komponente ohne die komplementäre Utopie. Selbst privat „aussteigen“ kann man nicht mehr, da es gar kein Außerhalb mehr gibt; es bleibt nur die Herausforderung eines richtigen Lebens im falschen, einer Herstellung von Inseln der Eigentlichkeit im Meer der Simulation. Wie kann ein solches Leben zu führen sein?

Zunächst muß die Bereitschaft entwickelt beziehungsweise gegen Ausbildungsinstitutionen, Medien und die Anforderungen des „Jobs“ durchgesetzt werden, daß das Leben überhaupt zu führen und nicht einfach nur zu leben sei. Vielleicht wird einem von der Lebenshilfe-Industrie nicht ohne Grund suggeriert, daß man sich treiben lassen und „den Augenblick leben“ soll – eine Persönlichkeit, die sich eigene Ziele setzt, ist unerwünscht.

Ein maßvoller und bewußter Medienkonsum ist die zweite Voraussetzung; dem Internet ist aufgrund seines „anarchischen“ Charakters der Vorzug gegenüber dem Fernsehen zu geben. Nicht zufällig ist die Generation, die Politik und Medien noch am stärksten affirmiert, diejenige, die mit dem Fernseher als Leitmedium aufgewachsen ist; offenbar schafft es Gewohnheit und Vertrauen, wenn man die führenden Politiker jeden Abend in sein Wohnzimmer läßt.

Aus der Abkehr von herrschender Politik und Medienberieselung folgt schließlich die Sezession: Manchmal führt sie hinaus aus der Großstadt und bildet einen Gegentrend zur vorherrschenden Abwanderung aus den dünn besiedelten, wirtschaftsschwachen – dafür aber preisgünstigen – Regionen Mitteldeutschlands.

In anderen Fällen kann es sich lediglich um eine innere Sezession handeln; oft genug findet sie nur abends in Internetforen oder Netzwerken statt, in denen man der Künstlichkeit und Gleichgültigkeit des „Jobs“ in eine – allerdings ebenso simulative – Welt zu entfliehen hofft oder sich ein Gefühl politischer Teilhabe verschafft, indem man in Kommentaren zu Online-Nachrichten auf den Putz haut.

Der „Job“ und das dabei erzeugte Produkt stehen schließlich im Mittelpunkt jeden Strebens nach Echtheit – die große Herausforderung der Lebenskunst liegt darin, Pflicht und Neigung zu verbinden. In der Goethezeit nannte man jemanden, dem dies gelungen ist, eine „schöne Seele“, und Goethes großer Entwicklungsroman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ handelt vom Problem des Bürgers, sich durch Leistung selbst zu verwirklichen – was, nebenbei bemerkt, der Adel nicht nötig hatte, der seinen Wert bereits aus der Familienzugehörigkeit ableiten konnte.

Was um 1800 noch vereinbar erschien, war hundert Jahre später, etwa im Werk Thomas Manns, leidvoll auseinandergetreten; die Lebensformen des Künstlers und des Bürgers ließen sich nur noch ausnahmsweise in einer Person verbinden. Immerhin war damals wenigstens eine bürgerliche Karriere noch halbwegs gesichert, wenn ein entsprechender Ausbildungshintergrund gegeben war. Ein Geisteswissenschaftler fand, auch wenn er nicht unbedingt Professor wurde, zumindest eine Stelle als Bibliothekar, während es heute nicht ungewöhnlich ist, daß Akademiker in Call-Centern arbeiten oder Pizza ausliefern.

Zwar lautet eine beliebte Phrase, daß heute „jeder“ Künstler ist oder sein kann, und das Internet ist voll von entsprechenden Selbstvermarktungsplattformen, aber tatsächlich ist nur ein Aspekt des Künstlertums, die ungesicherte Boheme-Existenz, Allgemeingut geworden, nicht aber der freiheitliche Lebensstil und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, die mit ihm idealerweise verbunden sind. Die „digitale Boheme“, von der man gerne redet, ist eigentlich ein Prekariat, das zu Hause bleiben darf, weil es im Produktionsprozeß nicht gebraucht wird.

Die Verbindung von Pflicht und Neigung ist eine lebenslange, nur graduell zu verwirklichende Aufgabe, und sie ist auch ohne künstlerische Ambitionen möglich. Zum Teil ist es schon der selbstgemachte Charakter eines Produktes, der ihm die Aura des Echten verleiht; noch entscheidender aber sind Qualität und Funktionalität: Traditionelle Wertarbeit besteht nicht zuletzt in ihrer modeunabhängigen Zweckmäßigkeit und Beständigkeit. Eine Taschenuhr, die um 1900 hergestellt wurde, funktioniert oft noch immer, ohne jemals repariert worden zu sein, während das soeben auf den Markt geworfene Handy manchmal schon nach wenigen Monaten seinen Geist aufgibt – und dies seltsamerweise, obwohl die Technik ungeheure Fortschritte gemacht hat.

Es scheint fast ein metaphysisches Gesetz zu sein, daß dieser Fortschritt nur in der besseren Organisation des Mangels besteht und für alles, was er gibt, woanders etwas entzieht.

Foto: Beständige Wertarbeit und Mobilität: Es scheint fast so, als bestehe Fortschritt nur in der besseren Organisation des Mangels

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