© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/11 / 02. Dezember 2011

Deutschland AG am Ende
Drehtürkapitalismus
Michael Wiesberg

Es gibt keine Krise des Kapitalismus, sondern eine Krise eines bestimmten Modells beziehungsweise einer bestimmten Ausprägung des Kapitalismus, der an dieser Stelle deregulierter Kapitalismus genannt werden soll, um nicht auf den unscharfen und irreführenden Begriff „Neoliberalismus“ zurückgreifen zu müssen. Dieser Typ Kapitalismus hat seine Wurzeln im angelsächsischen Raum, er ist Ausdruck eines bestimmten angelsächsischen Wirtschaftsverständnisses, das sich grundlegend von dem europäischen, vor allem aber von deutschen Vorstellungen unterscheidet.

Für diesen Kapitalismus stehen auf der politischen Seite die Namen Margaret Thatcher und Ronald Reagan, deren Namen „einen ideologischen Gezeitenwechsel“ in den angelsächsischen Ländern markieren, wie es FAZ-Wirtschaftsredakteur Philip Plickert in seiner Arbeit „Wandlungen des Neoliberalismus“ (Stuttgart 2008) ausdrückte: Sie beschritten in den 1980er Jahren einen Weg, der in Richtung Deregulierung und Globalisierung weisen sollte.

Thatcher führte eines der bisher radikalsten Privatisierungs- und Deregulierungsprogramme durch und veränderte damit nicht nur Großbritannien, sondern im Verbund mit Ronald Reagan auch Westeuropa. Der Weg dorthin war keineswegs zwingend oder eine Folge immer „offenerer Märkte“, vielmehr ein Ergebnis politischer Entscheidungen. Für diese „Revolution“ stehen Schlagworte wie Entstaatlichung, Deregulierung, Privatisierung, Flexibilisierung, Entbürokratisierung, Subventionsabbau und Reform des Sozial- und Wohlfahrtsstaates und anderes mehr.

Beschworen wird seither der Markt als „Naturgesetz“, der, wie es Jens Jessen in einem Beitrag für die Zeit ausdrückte, zur „Schicksalsmacht“ geworden sei. Von diesem „Markt“ sei aber nichts als „Darwinismus“ geblieben, der die „Aussonderung schwacher Schuldner, schwacher Staaten, schwacher Arbeitnehmer feiert“. Dieser Markt geht einher mit Begriffen wie Fusion und Aufkauf beziehungsweise Zerschlagung von Unternehmen, Private Equity, Hedgefonds oder Public Private Partnership. Passend dazu hat das aus den USA übernommene betriebswirtschaftliche Konzept des „Shareholder Value“ (deutsch: Aktionärswert) seinen globalen Siegeszug angetreten.

Der Shareholder-Value-Ansatz geht auf den US-amerikanischen Management-Professor Alfred Rappaport zurück, der vor 25 Jahren mit der Veröffentlichung des Buches „Creating Shareholder Value“ die betriebswirtschaftlichen Grundlagen lieferte. Der Durchbruch des Shareholder-Value-Konzeptes – so etwas wie die Antithese der bis dahin praktizierten deutschen Unternehmenskultur – rückte die kapitalmarktgesteuerte Unternehmensführung mit maximaler Gewinnorientierung und kurzfristiger Rechnungslegung in den Mittelpunkt. Nicht die Vermögenswerte in der Bilanz sind seitdem die Parameter, die den Wert eines Unternehmens bestimmen, sondern die Summe der künftigen Überschüsse an Barmitteln, genannt „Cashflow“.

Das alles dominierende Ziel ist deshalb die Steigerung der Dividenden und des Aktienkurses. Nicht mehr die langfristige Entwicklung eines Unternehmens steht im Fokus, sondern der kurzfristige Erfolg, der durch die Aktienoptionen, die Führungskräfte haben, weiter forciert wird. Je höher der Aktienkurs des eigenen Unternehmens, desto höher der eigene Profit. Gnadenlos wird es dann, wenn sich die Renditeerwartungen nicht erfüllen. Dann kann der Kapitalzufluß schlagartig abebben, und der Börsenkurs sinkt. Hier liegt auch der Grund, warum selbst erfolgreiche Unternehmen, wenn sich Renditeerwartungen nicht realisieren lassen, Personal „abbauen“ müssen.

Parallel zum Aufstieg des Marktes zur „Schicksalsmacht“ verläuft der Niedergang der Sozialen Marktwirtschaft, der durch den Prozeß der „Europäisierung“ noch weiter an Fahrt gewinnt. Durch den Verlust der Währungshoheit ist die autonome Geldpolitik als wichtiges Instrument der Wirtschaftssteuerung mit, wie wir heute sehen, weitreichenden Folgen verlorengegangen. Mehr und mehr Politikfelder und Vorschriftenbereiche werden aus der nationalstaatlichen Hoheit ausgegliedert, sei es das Kreditwesen, der Energiesektor, das Fernmeldewesen oder die Wertpapier- und Kapitalmärkte.

Damit wird der staatlichen Souveränität, die die Voraussetzung für das bisherige nationalstaatliche Modell der Sozialen Marktwirtschaft bildete, der realwirtschaftliche und der politische Boden entzogen. Das gilt auch für die deutsche Alternative zum angelsächsischen Kapitalismus, den der französische Wirtschaftswissenschaftler Michel Albert in seinem 1991 erschienenen Buch „Kapitalismus contra Kapitalismus“ als Rheinischen Kapitalismus (JF 44/11) charakterisierte.

Alles dies ist politisch gewollt gewesen und wurde auch durch deutsche Politiker nach Kräften befördert. Hier spielten zum Beispiel die Treuhand und die rot-grüne Regierung der Schröder-Ära eine exponierte Rolle. Für den Einbruch der US-Investmentbanken in die „Deutschland AG“, jenem nach dem Zweiten Weltkrieg gewachsenen Geflecht aus einheimischen Kapitalgebern, Banken und Industriekonzernen, sorgte zunächst die Treuhand; sie „verschaffte auch den Investmentbanken den Eintritt in Deutschland“, schreibt der Journalist Werner Rügemer in seinem Buch „Privatisierung in Deutschland“ (Münster 2008) und fährt fort: „Vor allem US-Banken wie Goldman Sachs arrangierten die großen Privatisierungen, z. B. des Leuna-Kombinats. Dabei trieben sie (...) die Provisionen in solche Höhen, die bisher den Top-Banken in Deutschland unbekannt waren.“

1998 erfolgte die Öffnung des deutschen Handelsbilanzrechts – angeblich, um die finanzielle Lage der Unternehmen transparenter zu machen. Von diesem Zeitpunkt an war eine moderate Dividendenpolitik nicht mehr möglich. Die Internationalisierung der Bilanzierungsregeln wies den Weg in den Aktionärskapitalismus, in dem Investmentgesellschaften den Ton angeben.

Den entscheidenden Nagel in den Sarg der „Deutschland AG“ aber schlug die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder ein. Von nun an galt die „Deutschland AG“ als „Welt der Strippenzieher“, die ihre Spielchen auf „Kosten der Effizienz“ spielten – so FAZ-Wirtschaftsredakteur Daniel Schäfer in seiner „Heuschrecken“-Apologie „Die Wahrheit über die Heuschrecken“ (Frankfurt/Main 2007), in der er sich nicht entblödete, das „Wegspülen“ des Rheinischen Kapitalismus durch den „angelsächsischen Liberalismus“ zu feiern: Die angelsächsischen Fonds seien „Agenten des Wandels, die den unaufhaltsamen Umbau vom Rheinischen Kapitalismus zum angelsächsisch geprägten Modell beschleunigen“.

Nicht vergessen werden sollte, daß es die rot-grünen „Agenten des Wandels“ waren, die hierfür die Voraussetzungen schufen. Bei Lichte betrachtet ging es hier um nichts anderes als um die Entnationalisierung der deutschen Wirtschaft: Rot-Grün sei „ein Bündnis gegen den Konservativismus“ gewesen, konstatierte der Ökonom Gustav Horn, „politisch gegen Helmut Kohl, ökonomisch gegen die alte Deutschland AG“ (Spiegel-Online, 4. März 2009). Dabei machten sie Nägel mit Köpfen, so bei den rot-grünen Steuerreformen, die mit dem Investmentmodernisierungsgesetz im Jahre 2003 „abgerundet“ wurden.

Bis dahin war der schnelle Verkauf und Kauf von Unternehmensanteilen steuer- und gesellschaftsrechtlichen Restriktionen unterworfen. Ein Ziel der rot-grünen Reformen war, das Kapital, das in wichtigen deutschen Unternehmen in Form von Bankbeteiligungen „eingeschlossen“ war, einer „wachstums-orientierteren“ Verwendung zuzuführen. Dieses Ziel wurde erreicht, denn die deutschen Banken und Versicherungen trennten sich sukzessive und steuerfrei von ihren Unternehmensbeteiligungen, so daß sich die Unternehmen andere Kapitalgeber suchen mußten.

Damit war die Stunde der Investmentgesellschaften, der Private Equity und Hedgefonds gekommen. Die rot-grüne Politik hatte damit einen entscheidenden Anstoß in Richtung Finanzmarktkapitalismus ausgelöst, flankiert von einer Union, der manche Regulierungsmaßnahme noch nicht weit genug ging. Die Konsequenzen sollten nicht lange auf sich warten lassen. Schnell drängten ausländische Investmentfonds auf den deutschen Markt, mit dem Effekt, daß der Anteil ausländischer Aktionäre immer weiter steigt, die mittlerweile in so mancher deutschen Aktiengesellschaft den Ton angeben, sprich: die Mehrheit stellen. Das spätere populistische Aufheulen von Franz Müntefering über die „Heuschrecken“ steht damit in einem trüben Licht, war es doch seine Partei, die ebendiesen „Heuschrecken“ überhaupt erst den Weg ebnete.

Wem Rot-Grün mit all dem gefällig war, hat wiederum Werner Rügemer recherchiert: „Es gibt ein großes Interesse in den Vereinigten Staaten an der Agenda 2010“ (Freitag, 11. Februar 2005), erklärte Schröder im November 2003 auf einer US-Reise, auf der er unter anderem eine Laudatio auf Sanford Weill hielt, den Chef der Citigroup. Jenem Sanford Weill, von dem behauptet wird, er sei mit Schröder eng befreundet. Eine Freundschaft des „Genossen der Bosse“, die sich für die US-Finanzwirtschaft auszahlen sollte. Neben der Agenda 2010 ging auch die Steuerreform 2000 (steuerfreie Erlöse aus Unternehmensverkäufen) auf die stille, aber erfolgreiche Lobbyarbeit der US-Finanzbranche zurück.

Wohl auch deshalb beeilte sich Schröder, die Stelle eines Bundesbeauftragten für Auslandsinvestitionen zu schaffen, den er mit Hilmar Kopper, damals unter anderem Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank, besetzte. Nach Koppers Ausscheiden mutierte diese Stelle zur Bundesagentur „Invest in Germany GmbH“, die mit ihren Mitteln laut Rügemer damals drei Außenstellen betrieb, in New York, Chicago und Los Angeles.

Die Regierung Schröder hat, auch das paßt ins Bild, einer neuen Mentalität unter deutschen Politikern, die pars pro toto für den Wandel der europäischen Eliten generell steht, zum Durchbruch verholfen: Seither ist es nämlich, so wie in den USA, üblich geworden, daß ausgeschiedene Politiker ihre im Amt geknüpften Beziehungen via „Drehtüreffekt“ nur allzu rasch in klingende Münze verwandeln, sei es in Form von Beraterverträgen, sei es in Form von Geschäftsführerposten oder Aufsichtsratsmandaten. Über den – um es vorsichtig zu sagen – Grad von „Filz“, der sich durch diese Netzwerke entwickelt, kann man wohl nur mutmaßen.

Der Typ angelsächsischer Kapitalismus, bei dem die grenzenlose Profitgier geradezu systemimmanent ist, hat seit Ausbruch der Finanzkrise 2007/2008 endgültig abgewirtschaftet. Es gilt sich in diesem Zusammenhang das in Erinnerung zu rufen, was der 1989 ermordete Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, so formulierte: „Wir brauchen Glasnost für den Kapitalismus – auch und gerade für die kapitalistische Wirtschaft.“ Das deutsche Erfolgsmodell der Sozialen Marktwirtschaft hat gezeigt, daß sich Kapitalismus und soziale Verantwortung nicht ausschließen müssen und sogar eine erfolgreiche Synthese eingehen können.

 

Michael Wiesberg, Jahrgang 1959, evangelischer Theologe und Sachbuchautor, ist als Journalist und Verlagslektor tätig. Auf dem Forum diskutierte er zuletzt mit Klaus Peter Krause über den Klimawandel („Nicht so leicht zu beurteilen“, JF 2/10).

Wir haben eher zuwenig Marktwirtschaft als zuviel, meinte der Soziologe Erich Weede vor zwei Wochen an dieser Stelle. Der Michael Wiesberg kritisiert dagegen die Enthemmung des Finanzmarktkapitalismus als Ursache der gegenwärtigen Krise.

Foto: Die Drehtür als Symbol des angelsächsischen Finanzkapitalismus: kurzfristige Profite, „hire and fire“, enge Verbandelung mit der Politik

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