© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/11 / 02. Dezember 2011

Erster Krieg der Moderne
Der britische Historiker Orlando Figes porträtiert den Krimkrieg
Dirk Wolff-Simon

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde durch drei herausragende Kriege bestimmt, die militärhistorisch für die weitere Entwicklung militärischer Konflikte maßgeblich waren: den Krimkrieg (1853–1856), den Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) und die preußisch-deutschen Kriege (Deutsch-Dänischer Krieg 1864, Deutscher Krieg von 1866 und Deutsch-Französischer Krieg von 1870/71).

Für den englischen Historiker Orlando Figes war der mittlerweile in Vergessenheit geratene Krimkrieg keiner von unzähligen Konflikten, sondern der zentrale Konflikt des 19. Jahrhunderts, mit Folgen, die wir bis heute spüren. Er kostete über eine Million Menschen das Leben, veränderte die Weltordnung und prägte die Konfliktlinien des 20. Jahrhunderts vor. Durch seine technischen Impulse revolutionierte er den Charakter militärischer Auseinandersetzungen grundlegend. Die innovativen Folgen der technischen Entwicklung zeigten sich einige Jahre später im Amerikanischen Bürgerkrieg, der bereits die Dimension der späteren Volkskriege annahm.

Diesem vernachlässigten Kapitel der europäischen Geschichte, bei dem sich Rußland auf der einen und ein Bündnis aus der Türkei, Frankreich und England auf der anderen Seite gegenüberstanden, widmet sich Orlando Figes in seinem neuen Buch „Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug“. Er erinnert daran, daß dieser Krieg an der Schwelle zur Gegenwart stand und ein Vorbote der großen Konflikte des 20. Jahrhunderts war. Vornehmlich ging es zwar um geopolitische Machtfragen, aber auch religiöse Aspekte spielten eine wesentliche Rolle. Begann der Konflikt 1853 mit kleineren Auseinandersetzungen zwischen türkischen und russischen Truppen an der Donau und im Schwarzen Meer, so weitete sich seine Dimension im Frühjahr 1854 durch die Unterstützung der Türken durch englische und französische Truppen zu einem folgenschweren Krieg zwischen den europäischen Großmächten aus.

Die Bezeichnung Krimkrieg wird seinen globalen Ausmaßen und der enormen Bedeutung nicht gerecht, die er für Europa, Rußland und jene Teile der Welt hatte, in denen sich das große internationale Problem abzeichnete, das sich aus der zunehmenden Erodierung des Osmanischen Reiches ergab – vom Balkan bis nach Jerusalem und von Konstantinopel bis zum Kaukasus. Da sich der russische Zar dazu berufen sah, auch für orthodoxe Christen relevante Wallfahrtsstätten im Heiligen Land als eigenen religiösen Verantwortungsbereich zu beanspruchen, erhielt der Konflikt die Dimension eines Religionskrieges.

Hieraus entwickelte sich für Zar Nikolaus I. (1796–1855) auch die heilige Pflicht, die Slawen auf dem Balkan von der muslimischen Herrschaft zu befreien. Zar Nikolaus ist für Orlando Figes der „Mann, der mehr als jeder andere für den Krimkrieg verantwortlich war“. Angetrieben „von übertriebenem Stolz und von Arroganz“ führte er seine Nation durch eine Reihe von Fehleinschätzungen in den Krieg. „In erster Linie glaubte er jedoch, einen Religionskrieg zu führen, einen Kreuzzug, der sich von der russischen Mission zur Verteidigung der Christen des Osmanischen Reiches herleitete.“ Und so kämpften im Krimkrieg nicht nur Russen gegen Engländer, Franzosen und Türken, sondern orthodoxe Christen gegen Katholiken, Protestanten und Muslime.

Orlando Figes gelingt es, die versandeten Artefakte dieses Konfliktes durch historische Zeitzeugen an das Tageslicht der Gegenwart zu holen. Anschaulich werden Episoden dieses Krieges, wie der desaströse „Charge of the Light Brigade“ geschildert oder die Krankenschwester Florence Nightingale und der junge Leo Tolstoi, der aus dem belagerten Sewastopol berichtet, dem Nebel der Nostalgie und des Heroismus entrissen. Vor allem auch durch die exzellente Übersetzung erzielt das Buch über diesen vergessenen Krieg des 19. Jahrhunderts ein hohes Maß an Lebhaftigkeit und Aktualität.

In vielerlei Hinsicht war der Krimkrieg einerseits ein herkömmlicher Krieg – Kanonen, Musketen, streng sortierte Schlachtreihen. Andererseits gilt der Krimkrieg als der erste totale, industriemäßig geführte Krieg. Gleichzeitig kamen erstmals dampfgetriebene Schlachtschiffe und Eisenbahnen zum Einsatz. Weitere moderne Mittel wurden genutzt, die fortan die kriegerischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts prägten: Telegraphie, der Einsatz von Krankenschwestern und die moderne Kriegsberichterstattung in Wort und Bild.

Die verlustreichen Schlachten des Krimkriegs führten zu geradezu revolutionären Veränderungen im Umgang mit Verwundeten. Der Beschluß der ersten Genfer Konvention 1864, die Verwundeten auf dem Schlachtfeld Schutz und Hilfe zusprach, war im wesentlichen eine Konsequenz der Erfahrungen im Krimkrieg. Auch das Verfahren der Triage, durch die in Situationen mit zahlreichen Verletzten Ärzte vor Ort eine Einteilung in verschiedene Verwundungsgrade und Behandlungsprioritäten vornehmen, wurde von dem russischen Arzt Nikolai Iwanowitsch Pirogow aufgrund seiner Erfahrungen im Krimkrieg entwickelt. Die britische Krankenschwester Florence Nightingale sorgte mit dafür, daß die rückständige britische Verwundetenversorgung straff organisiert wurde, wenngleich Figes in der Beurteilung dieser Ikone des Viktorianismus differenziert ist, da er ihre Fähigkeiten vor allem in der Organisation des Sanitätsbetriebes sieht.

Von den fast 750.000 Soldaten, die im Krimkrieg starben, fielen allein zwei Drittel auf russischer Seite. Die Zivilisten, die durch Hunger, Krankheiten, Massaker und ethnische Säuberungen umkamen, hatte niemand gezählt; man schätzt ihre Zahl auf 300.000 bis zu einer halben Million. Hier erinnert Figes an die „russische Nightingale“ – Dasha Michailova Sevastopolskaya. Dasha, wie sie von den Soldaten genannt wurde, verkaufte bei Kriegsbeginn ihr gesamtes Hab und Gut, erwarb ein Pferdefuhrwerk und Nahrungsmittel, eilte den russischen Truppen nach und baute die erste Verwundetenversorgung in der Geschichte des russischen Militärs auf. Aufopfernd pflegte und versorgte sie die Verwundeten während der Belagerung Sewastopols. Am Ende des Krieges wurde sie hierfür als einzige Frau der Arbeiterklasse vom Zaren mit dem höchsten russischen Verdienstorden ausgezeichnet.

Für England und Frankreich wurde der vollkommene Sieg über Rußland das vorherrschende Kriegsziel. Insofern wurde die Belagerung von Sewastopol, dem Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte, zu einem der herausragenden Meilensteine im weiteren Kriegsverlauf. Am 8. September 1855 fiel Sewastopol. „Ich habe geweint, als ich die Stadt in Flammen und französische Fahnen auf unseren Bastionen sah“, schrieb Leo Tolstoi, der am Krieg als Offizier teilnahm und später die Sewastopoler Erinnerungen verfaßte. Ein französischer Offizier hält in seinem Tagebuch fest: „Wir selbst bemerkten nichts von den Auswirkungen unserer Artillerie, die Stadt ist buchstäblich zermalmt, es gibt kein einziges Haus, das unsere Geschosse verfehlt haben, kein Dach ist noch vorhanden, fast alle Wände sind zerstört.“

In den kurz darauf folgenden Friedensverhandlungen büßte Rußland zwar nicht viel von seinem Territorium ein, jedoch wurde es durch den Vertrag gleichwohl gedemütigt. Innenpolitisch wirkte sich die Demütigung in ersten Reformen aus, die sowohl die Modernisierung des Militärs als auch die Abschaffung der Leibeigenschaft betrafen. Historisch konnte Rußland erst 1945 die beherrschende Position, die es in Europa eingenommen hatte, zurückgewinnen. Tolstoi hatte es vorausgesagt: Noch für lange Zeit wird diese Epopöe (Katastrophe) Sewastopols, deren Held das russische Volk war, in Rußland ihre Spuren hinterlassen. Orlando Figes ist es mit seinem neuen Buch gelungen, die Erinnerungen und Mythen dieses verschütteten Konfliktes wachzurufen.

Orlando Figes: Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug. Berlin Verlag, Berlin 2011, gebunden, 747 Seiten, Abbildungen, 36 Euro

Foto: „Seeschlacht bei Sinope“ Gemälde von Iwan Aiwasowskij (1853): Russische Mission für die Christenheit

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