© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/11 / 09. Dezember 2011

Piraten steuern nach links
Parteitag: Einseitige programmatische Aufrüstung
Henning Hoffgaard

Die zierliche Frau vom Sicherheitsdienst bleibt ganz ruhig. „Was seid ihr für Faschoschweine“, brüllt ihr ein Piratenmitglied mit wutverzerrtem Gesicht am Eingang der Stadthalle Offenbach entgegen. Nur mühsam gelingt es den Umstehenden, den Mann von Handgreiflichkeiten abzuhalten. Daß die Ordner einem Kamerateam eines türkischen Fernsehsenders den Zugang zum völlig überfüllten Parteitag der Piraten verwehren, war für das aggressiv gestikulierende Parteimitglied offenbar zuviel. Der Verweis auf die Brandschutzbestimmungen, die keinen weiteren Einlaß in die Halle erlauben, interessiert ihn augenscheinlich wenig. Erst als sich ein Polizist in Zivil zu erkennen gibt, beruhigt sich die Situation. Das Kamerateam darf schließlich trotzdem hinein.

Viele Piraten konnten am vergangenen Wochenende nicht mit soviel Entgegenkommen rechnen. Immer wieder muß der Versammlungsleiter Gäste des Parteitags auffordern, zu gehen, damit im Gegenzug stimmberechtigte Mitglieder am Parteitag teilnehmen können. Bereits am frühen Morgen hat sich am Eingang eine lange Schlange gebildet. Etwa 1.400 Piraten, zumeist junge Männer zwischen 18 und 35, finden ihren Weg in die triste Stadt am Main. Die Piraten wollen weg von der Ein-Themen-Partei und sich endlich auch zu Wirtschafts-, Zuwanderungs- und Arbeitsmarktfragen positionieren. Ganz oben auf der Liste steht allerdings die innerparteilich wenig umstrittene Drogenpolitik. Noch während die Geschäftsordnung diskutiert wird, fragt ein von den Formalitäten sichtlich genervter Pirat, wann denn endlich über Drogen gesprochen werde.

Ein wenig muß er sich noch gedulden. Zuerst stehen Anträge über Zuwanderung und den Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus auf der Tagesordnung. Die Argumente dazu sind schnell ausgetauscht, dennoch machen viele Mitglieder von ihrem Rederecht Gebrauch. Die Stimmungslage ist eindeutig: Islamfeindlichkeit und andere Formen von „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, besonders in der „Mitte der Gesellschaft“, sollen bekämpft werden. „Ich bin zu den Piraten gekommen, weil ich gegen Rassismus bin“, wirbt ein Neumitglied um Zustimmung zu den Anträgen. Sorgen machen braucht er sich keine: Der Applaus ist groß, die Mehrheit am Ende überwältigend. Zugleich sprechen sich die Piraten für die europaweite Einführung doppelter Staatsbürgerschaften und ein kommunales Ausländerwahlrecht aus. Ein Redner, der zaghaft auf die dem Sozialsystem entstehenden Kosten hinweist, wird gnadenlos ausgebuht. „Nationalismus muß geächtet werden“, wird ihm entgegengerufen.

Während ständig neue Geschäfts- und Tagesordnungsanträge eingebracht und verworfen werden, zieht es immer mehr Piraten in die Kantine. Selbst während des Essens tippen viele noch in ihre Handys, senden Nachrichten über Twitter oder haben gleich ein Laptop dabei. Von denen gab es auf dem Parteitag fast mehr als Parteimitglieder. An fast jedem Platz leuchtet ein Bildschirm, manchmal auch zwei. Die ganze Halle wird von dicken Kabelsträngen durchzogen, an denen Hunderte Computer hängen. Mehr als 100 Gigabyte an Daten produzieren die Parteimitglieder allein am Samstag. Ein Großteil davon dürfte sich um das bedingungslose Grundeinkommen drehen. Kaum ein anderes Thema hatte im Vorfeld für ähnlich intensive Diskussionen gesorgt. Für die einen der einfachste Weg, Armut abzuschaffen, für die anderen ein Schritt auf dem Weg zum Kommunismus. Daß es eine einfache Mehrheit geben wird, ist absehbar. Allerdings benötigen Anträge eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Die Abstimmung ist knapp. Zum ersten Mal muß ausgezählt werden.

Auch sonst erfreuen sich linke Positionen einer großen Beliebtheit. Ob kostenfreier Personennahverkehr, Migration, Drogen oder Hartz IV, fast überall setzt sich der linke Parteiflügel durch. Auch den ständigen Euro-Rettungsschirm ESM wollen die Piraten nicht grundsätzlich ablehnen. Nur dessen Zustandekommen wird am Ende nach langer Diskussion als „undemokratisch“ kritisiert. „Ich will, daß unsere Nachbarn uns kontrollieren und einen zweiten Holocaust verhindern“, hatte ein älterer Pirat wärend der Euro-Debatte gefordert.

Parteichef Sebastian Nerz kann am Ende mit seinen Piraten zufrieden sein. Eine Spaltung der Partei, vor der zuvor nicht wenige gewarnt hatten, droht fürs erste nicht. Jetzt gehe es darum, auch all jene Wähler zu überzeugen, die nicht so internetaffin sind wie die meisten Mitglieder, bekräftigt die politische Geschäftsführerin Marina Weisband (Portrait Seite 3). Während die Studentin diese Botschaft sanft lächelnd mal in die eine, mal in die andere Kamera sagt, schleicht im Hintergrund ein älterer Wachmann an einem Sitzkreis von weiblichen Piraten vorbei, die aufgeregt die „Dekonstruktion des Geschlechts“ diskutieren. Was er von den Piraten hält? „Nichts“, sagt er und geht weiter.

Foto: Piraten auf dem Parteitag in Offenbach: Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle

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