© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/11 / 09. Dezember 2011

Ein Mord und viele Fragen
„Fall Kiesewetter“: Sind die Mörder einer jungen Polizistin in Heilbronn wirklich schon ermittelt?
Felix Krautkrämer

Fast viereinhalb Jahre tappten die Ermittler im Fall des Heilbronner Polizistenmordes im dunkeln. Weder die eingesetzte Sonderkommision (Soko Parkplatz) noch die ausgelobte Belohnung von 300.000 Euro führten zur Ergreifung der Täter. Warum die 22 Jahre alte Polizistin Michèle Kiesewetter am 25. April 2007 auf der Heilbronner Theresienwiese sterben mußte, blieb rätselhaft. Vergangenen Monat dann erfolgte die spektakuläre Wende: Für den Mord an Kiesewetter sowie den Mordversuch an ihrem Kollegen Martin A. soll die terroristische Vereinigung „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) verantwortlich sein (JF 47/11).

Im ausgebrannten Wohnmobil der beiden Rechtsextremisten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt fanden sich die Dienstwaffen Kiesewetters und ihres Kollegen, zwei Pistolen der Firma Heckler & Koch, Modell 2000, Kaliber 9 mm. Ebenso die Handschellen, ein Pfefferspray, eine Minitaschenlampe und ein Taschenmesser – alles Gegenstände, die den Polizisten nach der Tat abgenommen worden waren. In den Überresten der von ihrer Komplizin Beate Zschäpe in Brand gesetzten Zwickauer Wohnung entdeckten die Ermittler zudem die beiden Tatwaffen, eine Tokarew TT-33, Kaliber 7,62 und eine Radom VIS, Kaliber 9 mm. Doch auch wenn die Funde nahelegen, daß die rechtsextreme Gruppierung die Verantwortung für den Mord an der Polizistin trägt, ist die Tat damit noch nicht bewiesen. Denn bislang ist nicht bekannt, seit wann das Trio überhaupt im Besitz der Waffen sowie der übrigen Gegenstände war. Die Bundesanwaltschaft will sich auf Nachfrage der JUNGEN FREIHEIT nicht dazu äußern. Ebensowenig dazu, ob die Tatwaffen im Zusammenhang mit anderen Verbrechen aufgefallen sind.

Unklar ist weiterhin auch die Frage nach einem Motiv: Die verwandtschaftliche Verbindung eines mutmaßlichen Unterstützers des NSU in den Heimatort Kiesewetters dürfte hierfür alleine nicht ausreichen. Fest steht nur, daß am Tag des Mordes im Zuge der eingeleiteten Ringfahndung auch das Kennzeichen eines Wohnmobils erfaßt wurde, das auf den Namen Holger G. angemietet war. Dieser befindet sich seit dem 13. November in Untersuchungshaft. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm vor, seit 2007 Mitglied des NSU gewesen zu sein. Zudem soll das mutmaßliche Bekennervideo der Gruppierung einen Bezug zu der Tat beinhalten.

Fraglich ist auch, warum Mundlos und Böhnhardt für die Tat andere Waffen verwendeten als bei der Mord-Serie an neun ausländischen Kleinunternehmern, für die sie ebenfalls verantwortlich sein sollen. Hier griffen sie stets zu einer Ceska 83, Kaliber 7,65 mit aufgesetztem Schalldämpfer sowie in einigen Fällen zu einer Bruni, Modell 315 als Zweitwaffe. Ab dem vierten Mord in München im August 2001 fanden sich am Tatort – anders als bei den drei Morden zuvor – keine Geschoßhülsen mehr. Die Täter achteten peinlichst darauf, keine Spuren zu hinterlassen. Anders in Heilbronn, hier lieferten die zurückgebliebenen Hülsen den Ermittlern Hinweise auf die Tokarew.

All diese Details wirken jedoch nebensächlich, sollte sich ein Bericht des Stern bewahrheiten. Das Magazin präsentierte in der vergangenen Woche ein geheimes Protokoll des amerikanischen Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency (DIA), nach dem deutsche Verfassungsschützer eventuell Zeugen des Heilbronner Polizistenmords gewesen sein könnten und vielleicht sogar in diesen verstrickt waren. Der DIA beschattete am Tag des Mordes in Heilbronn einen „Contact“ namens „M.K.“ sowie eine unbekannte zweite Person, die 2,3 Millionen Euro bei einer Bank einzahlte und sich danach zur Theresienwiese begab. An der Observierung waren laut dem Protokoll auch zwei Beamte des baden-württembergischen oder bayerischen Verfassungsschutzes beteiligt („2 (two) OPS Ofc. LfV BW or Bavaria“). Um 13.50 Uhr endete die Beschattung wegen einer Schießerei – Kiesewetters Ermordung. Wörtlich heißt es in dem Dokument: „Schießerei, in die ein BW OPS Offizier mit Rechten und einer regulären Polizeistreife verwickelt sind.“ („Shooting incident involving BW OPS Officer with right wing operatives and regular police patrol on the scene“). Sollte es sich bei den „right wing operatives“ um Mundlos und Böhnhardt gehandelt haben, stellt sich die Frage, woher die amerikanischen Agenten wußten, daß sie es mit Rechtsextremisten zu tun hatten. Auf jüngeren Fotos, die das Bundeskriminalamt in der vergangenen Woche veröffentlichte, läßt ihr Äußeres nicht auf ihre politische Gesinnung schließen.

Brisant ist zudem, daß es sich bei dem als „M.K.“ bezeichneten „contact“ um Mevlüt Kar handeln soll. Der aus Ludwigshafen stammende Türke gilt als fünfter Kopf der Sauerland-Gruppe, jener islamistisch-terroristischen Gruppierung, deren führende Mitglieder im März 2010 vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Die vier Männer sollen in Deutschland Sprengstoffanschläge gegen amerikanische Einrichtungen geplant haben. In dem Verfahren sagten die Angeklagten aus, in einem Terrorcamp neben der Kalaschnikow auch an einer Tokarew ausgebildet worden zu sein. Mit einer solchen Waffe wurde auf Kiesewetters Kollegen geschossen. Mevlüt Kar soll der Sauerland-Gruppe bei der Beschaffung von Zündern geholfen haben. Die Bundesanwaltschaft erwirkte deshalb 2009 einen Haftbefehl gegen ihn. Attila Selek, einer der Verurteilten, sagte zudem aus, Kar habe in Istanbul als Kontaktmann für Islamisten fungiert, die in Tschetschenien kämpfen wollten.

Kar soll auch für den türkischen Geheimdienst MIT gearbeitet haben, was erklären könnte, warum er sich trotz internationalem Haftbefehl noch immer in der Türkei auf freiem Fuß befindet. Auch dem amerikanischen CIA soll der unter dem Kampfnamen „Abu Obeida“ bekannte Türke als Informant gedient haben. Deutschen Ermittlern gerät er bereits nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ins Visier. In abgehörten Telefonaten nennt er den späteren Al-Qaida-Topterroristen Abu Musab al-Zarqawi als Kontaktmann. Als Kar im August 2002 in die Türkei reist, wird er dort als mutmaßlicher Al-Qaida-Kurier von der Polizei festgenommen, kommt aber – offenbar aufgrund seiner Geheimdienstkontakte – schon bald wieder frei.

Doch das Observierungsprotokoll des DIA ist nicht die einzige Verbindung von Mevlüt Kar zum Polizistenmord von Heilbronn. Einer seiner Kontaktmänner war der Somalier Ahmed Mani Hamud. Ihm soll er vier serbische Übungszünder und zwei kommerzielle bulgarische Sprengzünder für die Sauerland-Gruppe gegeben haben. Im Februar 2009 wurde Hamud gemeinsam mit dem Iraker Talib O. vom Landgericht Frankenthal wegen Mordes an drei georgischen Autohändlern zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Skandal daran: Talib O. lieferte als V-Mann für das LKA Rheinland-Pfalz Informationen über die Islamisten-Szene. Das Fahrzeug, ein Ford Escort Kombi, mit dem er und Hamud im Januar 2008 die Leichen der drei Georgier wegschafften, hatte Talib O. vom LKA erhalten. In dem Wagen fand sich später eine DNA-Spur, die so auch am Tatort auf der Theresienwiese in Heilbronn festgestellt worden war. Ende März 2009 lieferten die Landeskriminalämter Saarland und Baden-Württemberg gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft Heilbronn dafür jedoch eine Erklärung. Die Wattestäbchen, mit denen die Polizei die DNA sicherte, waren zuvor beim Verpacken durch eine Mitarbeiterin der zuständigen Firma mit deren DNA verunreinigt worden. Es gab also keine gemeinsame Spur zwischen den beiden Verbrechen. Der Fall der als „Phantom“ bezeichneten unbekannten Killerin, die für rund vierzig Straftaten, darunter sechs Morde, verantwortlich sein sollte, entpuppte sich als gigantische Ermittlungspanne. Seltsam mutet dabei allerdings an, daß bei einer früheren Untersuchung von etwa 300 Wattestäbchen der gleichen Herstellerfirma durch das Kriminaltechnische Institut des LKA Baden-Württemberg eine Fremdkontamination ausgeschlossen worden war. Sollte sich das Observierungsprotokoll des DIA als echt herausstellen, wäre es nicht ausgeschlossen, daß die falsche Spur absichtlich gelegt wurde. Immerhin gehört Desinformation zum Handwerkszeug von Geheimdiensten.

Die deutschen Behörden dementierten den Bericht des Stern umgehend. Bereits am Tag der Vorabmeldung teilte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mit, daß „zum Zeitpunkt des Mordes an der Polizistin“ in Heilbronn „keine Observation des BfV vor Ort“ gewesen sei. Ähnlich äußerte sich der Verfassungsschutz Baden-Württemberg: „Mitarbeiter des Landesamtes waren nicht Teilnehmer einer angeblich vom US-Militärgeheimdienst ‘Defense Intelligence Agency’ am 25. April 2007 in Heilbronn durchgeführten Observation und auch nicht Zeugen des Mordes.“

Am Donnerstag dementierte auch BKA-Chef Jörg Ziercke die Geschichte. Aus seinem Haus sei niemand zur Tatzeit vor Ort gewesen. Zudem gebe es keine Hinweise darauf, daß sich Mevlüt Kar am 25. April 2007 überhaupt in Deutschland aufgehalten habe, sagte er auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Generalbundesanwalt Harald Range in Karlsruhe.

Doch trotz der Dementis gibt es noch eine Reihe weiterer offener Fragen. So berichtet der Stern von zwei in der Nähe des Tatorts kontrollierten Arabern, von denen zumindest einer Verbindungen zu Mevlüt Kar gehabt haben soll. Außerdem hätten Zeugen einen blutverschmierten Mann gesehen, der sich eine halbe Stunde nach der Tat durch die etwa 1.500 Meter entfernten Wertwiesen am Neckar schleppte und dann zu einem Mann in einen blauen Audi 80 stieg. Zuvor hatte dieser ihm etwas auf russisch zugerufen. Mevlüt Kar soll Russisch können. Der Vorgang wurde der Polizei gemeldet. Doch die damals zuständigen Stellen äußern sich nicht mehr zu den früheren Ermittlungen. Seit dem 11. November ist die Bundesanwaltschaft für den Fall und somit auch für entsprechende Auskünfte zuständig. Auf Nachfrage heißt es dort allerdings, man beteilige sich nicht an Spekulationen.

 

„Tiefer Staat“

Als „Tiefer Staat“ wird in der Türkei ein Netzwerk aus Organisiertem Verbrechen, Politik, Justiz, Militär, Geheimdienst und türkischen Nationalisten bezeichnet. Im Februar dieses Jahres berichtete der Spiegel in einem mehrseitigen Artikel, deutsche Fahnder seien überzeugt, daß die Spur der sogenannten „Döner Morde“ zwischen 2000 und 2006 „in eine düstere Parallelwelt führt, in der eine mächtige Allianz zwischen rechtsnationalen Türken, dem türkischen Geheimdienst und Gangstern den Ton angeben soll“. Die Ermittler vermuteten damals, daß die Mordserie im April 2006 endete, weil sie dem Syndikat, zu dem auch Mitglieder der rechtsextremen türkischen „Grauen Wölfe“ gehören sollen, zu nahe gekommen waren.

Laut dem Magazin hätten glaubwürdige Informanten Geldwäsche als Motiv für die Morde angegeben. Wer sich geweigert habe, sein Geschäft zur Verfügung zu stellen, sei ermordet worden. Der Schuß ins Gesicht sei das Zeichen türkischer Nationalisten für den Verlust der Ehre gewesen. Die Verwendung der immerselben Waffe (Ceska 83) eine Warnung für andere.

Foto: Trauerzug für die 2007 in Heilbronn ermordete Polizistin Michèle Kiesewetter: Hinweise auf einen Kontaktmann der islamistischen Terrorszene

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