© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/11 / 09. Dezember 2011

Zar ohne Kleider
Rußland: Nach der Dumawahl wirkt Putins „gelenkte Demokratie“ wie eine Schimäre
Thomas Fasbender

Schon im Vorfeld waren die Wahlen zum russischen Parlament am vergangenen Sonntag von Vorwürfen begleitet, in erster Linie gerichtet an die Adresse der Regierungspartei „Einiges Rußland“: Einschüchterung, Benachteiligung der Opposition in den Massenmedien, behördliche Zensur und andere sogenannte administrative Maßnahmen. Am Wahltag überschlugen sich die Berichte von Manipulationen. Soldaten mit verschiedenen Ausweisen in der Hand seien zur mehrfachen Stimmabgabe erschienen, andere Wähler hätten ganze Packen von Wahlscheinen in die Urnen gestopft.

Da war es geradezu wie Ball verkehrt, als die Regierungspartei mit dem vollen Zugriff auf alle „administrativen Ressourcen“ am Ende des Tages von über 64 Prozent (2007) auf 49,5 Prozent einbrach. Ein Erdrutsch für die Elite an der Macht, eine Ohrfeige für das Tandem aus Wladimir Putin und Dmitrij Medwedew.

Die Kommentare im In- und Ausland gestalten sich widersprüchlich. Der Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Rainer Lindner, sagte am Montag: „Ich glaube, daß wir in Rußland die ersten freien Wahlen gesehen haben.“ Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Andreas Schockenhoff, hatte dagegen am Vortag noch von „stalinistischen Methoden“ gesprochen.

Auch bei der Opposition gehen die meisten davon aus, daß sich mit den praktizierten Mitteln der Manipulation das Ergebnis rein technisch allenfalls um circa 10 Prozent korrigieren läßt. Damit läge das wahre Resultat der Kremlpartei bei knapp unter 40 Prozent – was im übrigen den meisten Umfragen aus den Vorwochen entspricht.

In den Korridoren der Macht kursierten noch deutlich trübere Prognosen. Das erklärt die Nervosität in den Tagen vor der Wahl, etwa die Attacke gegen die Nichtregierungsorganisation „Golos“ als Reaktion auf die Veröffentlichung einer Webseite mit landesweit 5.300 angeblichen Verstößen.

Nicht minder interessant sind die Ergebnisse der übrigen Parteien. Die sozialliberale „Jabloko“ brachte es auf 3,3 Prozent, die wirtschaftsliberale „Rechte Sache“ auf 0,6 Prozent – womit auch ein gemeinsames Auftreten der bürgerlich-liberalen Opposition nicht für einen Einzug in die Duma gereicht hätte. Auch die dritte zur Wahl zugelassene Kleinpartei, die „Patrioten Rußlands“, verschwand mit einem Prozent unter „ferner liefen“. Zugelegt haben die linke Mitte („Gerechtes Rußland“ mit 13,2 Prozent) und die Kommunisten (19,2 Prozent). Beide konnten ihr Ergebnis in Summe fast verdoppeln. Die populistischen Liberaldemokraten („Rußland den Russen“) schnitten mit 11,6 Prozent erstmals seit 2003 wieder zweistellig ab.

Daß die Partei der Macht es trotz aller Vorgaben an die Provinzebene nicht geschafft hat, ihr Ziel von 60 plus auch nur annähernd zu erreichen, wird einiges Stühlerücken auslösen. Der Druck des linken Flügels auf die Regierung, der in den kommenden fünf Jahren keine Zwei-Drittel-Mehrheit zur Verfügung steht, wird wachsen. Das bürgerliche Lager wirkt endgültig vernichtet, gespalten zwischen ein paar überzeugten Liberalen und den Karrieristen der Regierungspartei. Die Opposition formiert sich auf der Straße, und das schon am Tag nach der Wahl.

Für die meisten Beobachter hat der 4. Dezember die Grenzen des autoritär-demokratischen Systems umrissen. Die „Vertikale der Macht“ mag noch so aufrecht stehen – ohne hinreichende Zustimmung durch das Volk ist Putins „gelenkte Demokratie“ nur eine Schimäre.

Foto: Premier Putin wird nicht mehr weitermachen können wie bisher: Das Ziel von 60 plus deutlich verfehlt

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