© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/11 / 09. Dezember 2011

Warum wir den Islam nicht fürchten müssen
Hüter der Tradition
Franz Uhle-Wettler

In Europa leben heute rund 35 bis 55 Millionen Muslime, in Deutschland sind es mittlerweile zwischen 3,3 und 4,3 Millionen. Genaue Zahlen gibt es nicht, da eine statistische Erfassung nur durch eine Volkszählung möglich wäre. In den Medien werden teilweise recht einseitige Urteile über die zweitgrößte Weltreligion, ihre Dogmatik, Tradition und Gebräuche verbreitet.

Tatsächlich werden viele Autoren der Vielfalt des Islams nicht gerecht. Wenn von der islamischen Rechtsordnung (Scharia) gesprochen wird, äußern manche westliche Kommentatoren die Befürchtung, in Europa würden bald Ehebrecherinnen öffentlich gesteinigt, oder sehen darin eine Parallelgesetzgebung, die mit dem Grundgesetz inkompatibel sei.

Doch beschäftigt man sich mit der Geschichte der Religion aus der arabischen Wüste, ergibt sich ein anderes Bild. Die Scharia wurde erstmals und dann nur teilweise gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Türkei ähnlich einem Gesetzbuch kodifiziert und mußte dabei natürlich auf die verschiedenen Überlieferungsformen des Islams zurückgreifen: auf den Koran, auf gesicherte Äußerungen (Hadith) sowie Handlungen (Sunna) Mohammeds und deren Deutung (Idschma) durch die Gemeindeältesten und Rechtsschulen. Zudem wurde Mohammed vormoslemisch – eventuell sogar von ostsyrischen Christen, wie die Inarah-Forschung nahelegt (JF 24/11) – beeinflußt, bis er etwa 35jährig durch den Engel Gabriel von Allah erleuchtet worden sein soll.

Die Vielfältigkeit der Quellen führte schon früh zu Unterschieden der verkündeten Grundsätze. Dabei ist die Trennung zwischen Sunniten (zirka 90 Prozent) und Schiiten (zirka zehn Prozent) sowie die Trennung in Untergruppen wie die Wahhabiten (sunnitische Reformbewegung) zu beachten. Sunniten und Schiiten erkennen unterschiedliche Quellen der Scharia an und messen ihnen auch unterschiedliche Bedeutung zu.

Die Schwierigkeiten bei der inhaltlichen Darstellung der Scharia dürfen nicht unterschätzt werden. Schon der Koran, eine der wichtigsten Quellen, ähnelt der Bibel, denn der Betrachter findet auch im Koran für viele widersprüchliche Aussagen Belege und muß mithin viele Aussagen und deren Bedeutung gegeneinander abwägen.

Die Rechtswirklichkeit tritt hinzu. Hierin gleichen Islam und Scharia der US-amerikanischen Verfassung. In dem Verfassungsdokument aus dem Jahre 1787 heißt es, daß alle Menschen von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet wurden und zu diesen Rechten Leben und auch Freiheit gehören. Aber selbst US-Präsident Thomas Jefferson verweigerte seinen eigenen Sklaven die Freiheit. Die Sklaverei hielt sich „in the land of the free“ fast ein Jahrhundert, erst um 1965 wurde die in einigen Bereichen sogar rechtlich festgelegte Benachteiligung der ehemaligen schwarzen Sklaven beseitigt.

Ähnlich verhält es sich mit einigen offiziellen Texten des Islam. Die „Allgemeine Erklärung über die Menschenrechte im Islam“ (19. September 1981) oder die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ der Mitgliedstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz aus dem Jahre 1990 geben kaum Grund für Kritik. Die Menschenrechte werden zwar unter Scharia-Vorbehalt gestellt, aber gelten. Natürlich kann die Wirklichkeit von der Rechtstheorie und sogar vom Gesetz abweichen – so wie in der Bundesrepublik etwa Einschränkungen in der Meinungsfreiheit beim „Kampf gegen Rechts“ hingenommen werden.

Die Scharia selbst umfaßt das gesamte islamische Recht, das in einer islamischen Gesellschaft zu beachten und erfüllen ist. Es regelt den Kult und Ritus ebenso wie die zwischenmenschlichen Beziehungen unter den Gläubigen. Wie das Naturrecht überwölbt die Scharia das Zivil- und Strafrecht, deren Gesetze ihr stets entsprechen müssen. Um Glaubensfragen im engeren Sinne kümmert sich die Scharia nicht. Folglich ist Vorsicht bei der Beurteilung der Scharia geboten, etwa wenn die Medien von ihr sprechen, als fordere sie unabänderlich und in jedem moslemischem Land die Nachrangigkeit der Frauen oder sogar die Verstümmelung der Mädchen.

Es gibt gute Gründe, sich inmitten der ohnehin hier nur angedeuteten islamischen Vielfalt an Goethes Beurteilung des Korans zu erinnern. Er nannte den Koran „ein Buch, das uns, sooft wir uns ihm nähern, von neuem abstoßend ist, dann uns immer von neuem anzieht, mit Bewunderung erfüllt und uns endlich zur Verehrung zwingt.“

Notwendig ist auch ein Blick auf das Wirken des Islam in der Geschichte. Schon bald nach Mohammeds Tod begann die kriegerische Ausbreitung des Islam und 1529 sowie 1683 belagerten Moslems sogar Wien, die Hauptstadt des Landes der damaligen habsburgischen deutschen Kaiser. Doch Zurückhaltung ist geboten, wenn diese gewaltigen Kriege flugs auf den Heiligen Krieg (Dschihad) zurückgeführt werden.

Davor kann schon die 2. Sure, Vers 191 warnen: „Tötet im Dienst an eurer Religion diejenigen, die euch töten wollen, doch beginnt nicht die Feindseligkeiten. Allah liebt diejenigen nicht, welche über das Ziel hinausgehen.“ Mit anderen Worten: Verteidigungskriege sind erlaubt, doch Moslems, die Glaubenskriege eröffnen, überschreiten eine Grenze und ziehen sich den Zorn Allahs zu. Die Gründe der gewaltsamen Ausbreitung des Islam liegen wohl eher in jenen Expansionszielen, nach denen auch die Briten bei der Entstehung ihres noch viel größeren Kolonialreiches strebten: „gold, gospel and glory“ – Gold, Evangelium und Ruhm.

Die Untersuchung des Vorwurfs, der Islam fordere Heilige Kriege, kann bei etwas Selbstkritik sogar zu unbequemen Erkenntnissen führen. 1915 forderten der Lordbischof von London und der Erzbischof von Canterbury als Oberhaupt der anglikanischen Kirche einen „holy war“, einen Heiligen Krieg gegen das deutsche Kaiserreich als den schlimmsten Feind, den das Christentum je gehabt hat. Ein US-amerikanischer Präsident hatte vor ein paar Jahren einen „crusade“, einen Kreuzzug gegen den Irak, gefordert. Säkulare, aber christlich geprägte Staaten rufen noch in unseren Tagen ebenso freizügig zum Dschihad auf, wie sie dem Islam vorwerfen.

Mit der christlichen Toleranz war es auch in der Vergangenheit nicht weit her. Als Moslems 1453 Konstantinopel erobert hatten, bestätigte Sultan Mehmet II. der griechisch-orthodoxen Kirche alle Privilegien, die ihr von christlichen Kaisern verliehen wurden. Mithin konnten die Klöster auf dem Athos jahrhundertelang unter moslemischer Herrschaft blühen, und der Patriarch hat seit mehr als einem halben Jahrtausend seinen Sitz in Istanbul.

Im selben Jahrhundert hat aber auch die christliche „Reconquista“ in Südspanien, auf Sizilien und in Süditalien alle moslemischen sowie jüdischen Gemeinden vernichtet, während moslemische Staaten die mosaisch-gläubigen Juden aufnahmen. Christliche und jüdische Gemeinden konnten bis in das 20. Jahrhundert hinein in vielen islamischen Staaten überleben. Nicht immer, aber oft gut. So ließ zum Beispiel Großwesir Sokollu Mehmed Pascha 1557 nach der Eroberung von Fünfkirchen (heute Pécs in Ungarn) das dortige Patriarchat erneuern.

Allerdings wurden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Moslems immer weniger duldsam gegen die bei ihnen lebenden Christen und Juden. Sie reagierten damit auf den okzidentalen Imperialismus auf dem Balkan, wo vor allem Rußland unter dem Banner des Panslawismus die Kreuzesfahne entrollte und Aufstände unterstützte oder sogar entzündete.

Die Gemeinschaft der Muslime (Umma) hat gute Gründe anzunehmen, das setze sich bis heute fort, denn heute schreiben die westlichen Staaten nur statt des Kreuzes ihre Form der Demokratie sowie ihre Deutung der Menschenrechte auf die Fahne – und verfolgen dabei noch immer zuweilen stark religiös anmutende Ziele.

Genausowenig wie es „das“ Christentum gibt, existiert „der“ Islam. Von Zentralafrika bis zu fernen Inseln im Pazifik gibt es seit jeher vielfältige Formen des Islam, zumal auch er selten und nur zeitweilig regional bestimmende Autoritäten wie die christlichen Patriarchate oder Päpste gehabt hat. Doch für die deutsche Diskussion über den Islam und die bei uns lebenden Moslems ist nur wichtig, was wir fordern dürfen und können. Dazu gehört selbstverständlich, daß jeder, der hier lebt, die deutschen Gesetze zu befolgen hat. Zusätzlich aber wird fast immer gefordert, daß die Moslems sich „integrieren“.

Schon der Ausdruck erinnert daran, daß Intellektuelle und Politiker gern unmittelbar oder auf dem Umweg über das Englische aus dem Lateinischen übernommene Worte nutzen, weil sie so kenntnisreich klingen und oft inhaltlich schön unbestimmt sind. Da die Gesetzestreue selbstverständlich ist, kann letztlich nur Übernahme der heute bei uns üblichen kulturellen sowie gesellschaftlichen Werte und Gebräuche gemeint sein. Damit aber ergeben sich unüberwindliche Schwierigkeiten, die sich leicht am Beispiel der neuerdings bei uns vorherrschenden Sexualmoral erläutern lassen.

Heute gilt Homosexualität als Normalfall, die gleichgeschlechtliche Ehe hat nahezu denselben Rechtsstatus wie die traditionelle Ehe zwischen Mann und Frau erlangt. Die überkommene bürgerliche Sexualmoral hat ihre Schutzfunktion verloren, die Sexualnormen haben sich völlig verschoben: Mehr als die Hälfte der jungen Mädchen hatte bereits mehrere Sexualpartner, jedes Jahr werden Hunderttausende Babys abgetrieben, der Trauschein hat unter jungen Paaren keine Bedeutung, mehr als die Hälfte der Kinder wird von unverheirateten Müttern geboren und Frauenärzte schätzen, daß bis zu zehn Prozent der „ehelich“ geborenen Kinder Kuckuckskinder sind. Das ist insgesamt ein Kulturbruch, und die Grenzen verschwimmen weiter. Was heute als abnorm gilt, kann morgen schon normal sein – von Sodomie und Päderastie ganz zu schweigen.

Damit ist selbstverständlich geworden, was in der Steinzeit und bis in die jüngste Zeit hinein in fast allen Kulturen undenkbar war. Niemand weiß, wie lange sich diese neuen westlichen Lebensformen behaupten können. Allerdings erlauben die sinkenden Geburtenzahlen in den Industriestaaten dieser Welt die Vermutung, daß die westlichen Lebensnormen sich am Ende durch das selbst abschaffen, was beschönigend demographische Entwicklung genannt wird, aber eher einer demographischen Katastrophe gleichkommt.

Wo die traditionellen Familienbande zerstört werden, fehlen die Kinder. Weitsichtige Muslime wissen das und wehren sich mit Händen und Füßen gegen den „way of life“ der westlichen Hemisphäre. Mit welchem Recht dürfen wir von den bei uns lebenden Moslems fordern, sich zu Werten und Lebensweisen zu bekennen, in die sich unsere Vorväter und unsere Väter niemals „integriert“ hätten?

 

Dr. Franz Uhle-Wettler, Generalleutnant a. D., Jahrgang 1927, ist Militärhistoriker und war Leiter des Nato Defence College in Rom. Zuletzt erschien sein Buch „Rührt Euch! Weg, Leistung und Krise der Bundeswehr“ (Graz 2006).

Foto: Wandelbare Religion: Ähnlich wie das Christentum hat der Islam Epochen der Bilderfeindlichkeit durchlebt – und eine kalligraphische Kunst hervorgebracht

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