© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/11 / 16. Dezember 2011

„Westliche Demokratie ist dort Utopie“
Peter Scholl-Latours neues Buch „Arabiens Stunde der Wahrheit“ rückt das Bild vom „arabischen Frühling“ zurecht
Moritz Schwarz

Herr Professor Scholl-Latour, warum ist dies „Arabiens Stunde der Wahrheit“?

Scholl-Latour: Weil es weder ein Frühling ist, wie die revolutionäre Bewegung von Tunis bis zum Persischen Golf gerne genannt wird, noch ein Sonnenuntergang. Endlich wird sichtbar, was man bei uns bisher gern ignoriert hätte, nämlich daß die Regime in der arabischen Welt, die vom Westen geschätzt wurden, zutiefst undemokratisch waren.

Dafür unterstützen wir jetzt die arabische Demokratiebewegung.

Scholl-Latour: Schön, aber der Versuch, westliche Demokratie dort einzuführen, ist eine Utopie.

Warum?

Scholl-Latour: Nicht weil die Araber nicht zur Demokratie fähig wären, sondern weil unser Begriff von Demokratie nicht auf die dortigen Verhältnisse paßt.

Da ist Außenminister Westerwelle anderer Meinung. Er will dafür sorgen, daß „der arabische Frühling ein wirklicher Übergang zur Demokratie (wird).“

Scholl-Latour: Stellen Sie sich doch nur einmal vor, China hätte mit den Debatten des Deutschen Bundestages seinen Aufschwung vornehmen wollen. Die Europäer und Amerikaner bilden sich immer noch ein, sie seien maßgebend für den Rest der Welt. Nein, in den arabischen Ländern muß erst ein Modell für den Aufbau eines erträglichen Regimes gefunden werden. Ein System wie etwa die deutsche parlamentarische Demokratie müßte dort aufgrund mangelnder Handlungsfähigkeit scheitern.

In Ihrem neuen Buch bereisen Sie den arabischen Bogen von Tunesien, wo die Revolte ihren Ausgang genommen hat, bis Bahrain und Syrien, wo die Aufstände mit Gewalt erstickt werden. Das aktuellste Kapitel aber dürfte sein: „Ägypten. Enttäuschung am Tahrir-Platz“.

Scholl-Latour: Bis jetzt scheinen die Wahlen relativ ordentlich zu verlaufen, und die bisherigen Resultate entsprechen ja auch den Erwartungen, die Kenner des Landes vorausgesagt haben. Es entstand nämlich ein deutlicher Vorsprung für die islamischen Parteien, vor allem für die Moslembrüder ...

... denen Sie bescheinigen, relativ gemäßigt zu sein, obwohl die 1928 gegründete Bewegung manchen Kritikern als eine der Keimzellen des modernen Islamismus gilt.

Scholl-Latour: Die Moslembrüder können sich heute in der Tat zu einer vernünftigen und gemäßigten Partei entwickeln. Sorgen machen mir hingegen die Erfolge der salafistischen Al-Nur, der „Partei des Lichts“, die von Saudi-Arabien finanziert wird und die dort verankerte religiöse Unduldsamkeit auch auf Ägypten übertragen möchte.

Wie gefährlich sind die Salafisten?

Scholl-Latour: Ursprünglich waren die Salafisten eine Erneuerungsgruppe, die zur reinen Lehre des koranischen Ursprungs zurückkehren wollte und die Elemente von Aberglauben, von Heiligenverehrung und bestimmte Abweichungen, die im Laufe der Zeit mit mancher islamischer Praxis einhergegangen sind, ablehnt. Es war also in gewisser Hinsicht eine Modernisierung angestrebt. Inzwischen hat sich die Salafiya zu einem extrem radikalen Trend entwickelt, und der dortige Fanatismus – vom Rigorismus der saudischen Wahabiten gefördert und finanziert – erstreckt sich auch auf andere islamische Staaten.

Folgt also auf den arabischen Frühling ein islamistischer Winter?

Scholl-Latour: Wir sollten die arabischen Ereignisse nicht auf die ganze islamische Umma ausdehnen. Wenn wir jedoch das Wort „arabischer Frühling“ benutzen, ist das angesichts der jetzigen Situation völlig unangebracht.

Warum?

Scholl-Latour: Ich habe mich mit jungen revolutionären Bloggern in Tunis und in Ägypten unterhalten. Das sind wirklich sympathische, gebildete Leute, aber in politischer Hinsicht sind sie Illusionäre und Dilettanten. Die maßgeblichen Kräfte haben sich während der Kundgebungen des Tahrir-Platzes im Hintergrund gehalten.

Nämlich?

Scholl-Latour: Auf der einen Seite die Armee, die Ägypten weiterhin regiert und möglicherweise noch strammer kontrolliert als zu Zeiten Mubaraks. Auf der anderen Seite stehen die islamischen Kräfte. Die jungen Demonstranten vom Tahrir dagegen erscheinen mir als politisch unreife Schwärmer, die weder über ein Programm noch über eine solide Führung verfügen. Ich habe sie gefragt, welcher Partei sie sich denn bei den Wahlen anschließen wollen und bin nur auf ratloses Schweigen gestoßen.

Also, was ist dran am Wort von der „Face-book-Revolution“?

Scholl-Latour: Ob Facebook oder Twitter wirklich eine grundsätzlich neue Strategie des politischen Umsturzes eingeleitet haben, bleibt dahingestellt. Die Rolle dieser elektronischen Medien wurde vermutlich überschätzt. Es ist zwar ein visueller und akustischer Kontakt zwischen reformerischen Gruppen zustande gekommen, aber es konnte bei dieser anonymen Verschwörung nicht zu einer wirklichen, aktiven Solidarität kommen. Auf dem Tahrir-Platz fanden sich im Grunde Zufallsverbündete zusammen, denen der instinktive Zusammenhalt fehlte. Eine US-Journalistin hat das ganz richtig beschrieben: „Um den Menschen den Mut zu verleihen, gemeinsam auf die Barrikaden zu gehen, bedarf es des Gefühls, von echten Freunden umgeben zu sein.“ Die Tahrir-Begeisterung litt jedoch unter der Anonymität ihrer Rekrutierung und an der Zufälligkeit von Agitatoren, die sich niemals persönlich getroffen hatten und keine tiefe Verbindung entwickeln konnten.

Aber was ist in Zukunft zu erwarten, wenn, so wie es sich abzeichnet, die islamischen Parteien, allen voran die Moslembrüder, in Ägypten die Wahlen gewinnen?

Scholl-Latour: Wir müssen uns vor allem davor hüten, die Ereignisse in der arabischen Welt mit den Wünschen und Bedürfnissen des Westens zu messen und gleichzuschalten. Schon hat man das Gefühl, daß die Amerikaner wieder versuchen, sich einzumischen und den orientalischen Völkern ihre eigenen Prinzipien aufzuzwingen.

Was man sich fragt, ist, ob dieser „Frühling“ in einer Demokratisierung oder aber in einer Islamisierung endet?

Scholl-Latour: Man sollte die Frage nach der „Demokratie“ in unserem Sinne beiseite lassen. Die islamische Welt hat ihre eigene kulturelle, gesellschaftliche und politische Entwicklung durchlebt. Die Dinge dort werden sich auf andere Weise vollziehen als bei uns – und dem Westen fehlt es an Überzeugungskraft und Elan, um seine Ideen durchzusetzen.

„CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla ruft Ägypten zum Bekenntnis zur Demokratie auf“, meldet zum Beispiel der „Focus“.

Scholl-Latour: Ich betrachte es als ausgesprochen töricht, den Arabern eine Staatsform vorschreiben zu wollen. Das müssen die islamischen Völker selbst herausfinden. Wenn es dabei zu blutigen Unruhen kommt, können wir leider daran wenig ändern. Würden sie sich auf unsere Methoden berufen, würden sie ohnehin Schiffbruch erleiden und das Risiko eingehen, zum „failed state“, zum „gescheiterten Staat“, zu werden. So bitter es klingt, aber hätte man in China seinerzeit den sympathischen jungen Studenten vom Platz des Himmlischen Friedens nachgegeben, wäre es wohl zu einem Bürgerkrieg, einer weißen Kulturrevolution und einem furchtbaren Gemetzel gekommen. Außerdem sollten wir uns fragen, wie wohl die Amerikaner reagieren würden, falls die Chinesen versuchten, sie in ihrem Sinne zu bekehren und ihnen ihre politischen Lebensformen aufzuerlegen. In der jetzigen Situation Ägyptens müssen wir bedenken, daß man im Niltal unter Mubarak vermutlich sicherer gelebt hat als heute. Der Lebensstandard der breiten Bevölkerung ist spürbar gesunken. Der Tourismus ist als Einnahmequelle abhanden gekommen. Die Leute leben dort keineswegs besser als vorher.

In Tunesien haben die Wahlen bereits stattgefunden, der Wahlsieger ist die islamische En-Nahda-Partei. In welchem Verhältnis stehen die nun offenbar zur Macht kommenden islamischen Parteien der Region untereinander? Verbindet die nordafrikanischen Staaten vielleicht bald eine „grüne Internationale“?

Scholl-Latour: Man muß bedenken, daß trotz des gemeinsamen Bekenntnisses zum Islam die dortigen Völker sehr unterschiedlich sind. Im Scherze wurde im Maghreb behauptet, die Tunesier seien die Frauen, die Algerier die Männer und die Marokkaner die Krieger. In Ägypten hatte zur Zeit der Monarchie sogar das Wort „Araber“ eine negative Bedeutung. Die Moslembrüder sind – dessen müssen wir uns bewußt sein – etwa auch in anderen Ländern, wie Syrien oder Jordanien, stark vertreten. Manche sind gemäßigter, andere radikaler. Was Marokko betrifft, so bleibt es weiterhin unklar, wie die dortige islamische Bewegung, die sich als stärkste Partei offenbart hat, sich weiter entfalten wird. Was Libyen betrifft, so steht dieses Land am Rande des Abgrundes.

Inzwischen regiert am Bosporus die islamische AKP. Könnte die demographisch und ökonomisch prosperierende Türkei zur neuen Führungsmacht eines vielleicht entstehenden islamischen Bogens werden, der von Zentralasien bis Nordafrika reicht?

Scholl-Latour: Theoretisch wäre das vorstellbar, aber schon mit dem Kurdenproblem im eigenen Land wird der türkische Premierminister Erdogan nicht fertig. Diesen ethnischen Konflikt versucht er offenbar im Namen der gemeinsamen religiösen Ausrichtung, im Namen der „islamischen Umma“ zu überwinden. Der Begriff „Nation“ widerspricht der koranischen Lehre.

Der Aufstand in der arabischen Welt begann nach der Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi. Inzwischen heißt es, Bouazizi sei islamisch orientiert gewesen und vor allem daran verzweifelt, daß er von einer weiblichen Polizistin geohrfeigt wurde.

Scholl-Latour: Sein Stolz als islamischer Mann wurde dadurch verletzt. Aber es gibt auch noch andere Interpretationen.

In Ihrem Buch gehen Sie nicht richtig auf die Frage ein, warum nicht?

Scholl-Latour: Man hat Bouazizi zwar ein Denkmal errichtet, aber eine Führungsgestalt oder gar ein charismatischer Führer ist er nicht gewesen. Sein Tod ist eher zufällig zum Auslöser des Aufstandes geworden. Manchmal werden eben große Ereignisse durch Nebensächlichkeiten ausgelöst.

Mancher mag in Ihrem Buch ein wichtiges Land vermissen: den Iran.

Scholl-Latour: Die Iraner sind zwar in der Mehrheit schiitische Muslime, aber sie sind keine Araber. Sie betrachten sich als Mitglied der indoeuropäischen Völkerfamilie und distanzieren sich sogar von den semitischen Arabern.

Dennoch steht das Land inzwischen fast mehr als die arabischen Länder wieder im Fokus – Kritiker meinen, im Fokus der westlichen Polemik.

Scholl-Latour: Dem liegt eine offensichtliche Heuchelei zugrunde. Gemessen an Saudi-Arabien und den Golf-Emiraten ist der Iran, den wir stets als religiöse Despotie darstellen, sehr viel liberaler und in seiner religiösen Interpretation geschmeidiger. Im Gegensatz zu Saudi-Arabien wird im Iran nach der Freitagspredigt keine blutige Gerichtsbarkeit vollzogen, werden keine Köpfe oder Glieder abgehackt oder Frauen gesteinigt.

Und was passiert, wenn der Iran in Zukunft die Atombombe hat?

Scholl-Latour: Es ist wahrscheinlich, daß die Islamische Republik Iran den Besitz der Atomwaffe anstrebt, aber ein solches Vernichtungselement ist bisher stets eine Abschreckungswaffe gewesen, wie das Beispiel Indien und Pakistan zeigt.

Auch für Syrien konstatieren Sie ein gewisses Maß an Heuchelei.

Scholl-Latour: Vermutlich ist Syrien das komplizierteste arabische Land. Neben der Sekte der Alawiten, die dort unter Baschar al-Assad die Macht ausüben, gibt es auch zehn Prozent Christen. Man sollte sich im Abendland für deren Schicksal interessieren, aber diese Anteilnahme ist ausgeblieben. Das Beispiel des Irak hat gezeigt, daß Saddam Hussein, bei allen Verbrechen, die er an seinen Landsleuten begangen hat, die beachtliche christliche Gemeinde in seinem Land geschont und geschützt hat. Heute hingegen sind die irakischen Christen der Verfolgung und der Vertreibung ausgesetzt.

Wird es nun in anderen Ländern auch so weit kommen?

Scholl-Latour: Was Ägypten betrifft, so befindet sich dort einer der ältesten Zweige der Christenheit. Die koptische Gemeinde, die mindestens acht Millionen Anhänger zählt, geht auf den Evangelisten Markus zurück. Seit dem Sturz Mubaraks ist es zu heftigen Ausschreitungen gegen diese christlich-koptische Minderheit gekommen. Und die westlichen Länder verhalten sich in den Augen auch der Muslime schändlich, indem sie das traurige Schicksal ihrer religiösen Brüder
ignorieren.

 

Prof. Dr. Peter Scholl-Latour Einen „der letzten großen Welterklärer der Deutschen“ hat ihn Hans-Ulrich Jörges, Chefredakteur des Stern, unlängst genannt: Peter Scholl-Latour, dieser „Weltreisende auf seinem fliegenden Teppich und deutsche David Livingstone“ (Günther Deschner), hat soeben bei Propyläen sein neues, mittlerweile 34. Buch vorgelegt: „Arabiens Stunde der Wahrheit. Aufruhr an der Schwelle Europas“. Das Werk behandelt die jüngste Entwicklung in allen wichtigen Ländern des „Arabischen Frühlings“. Er habe „mal wieder recht behalten ... Scholl-Latours Urteile sind scharf, die Begründungen fundiert“, urteilt der Spiegel. Geboren 1924 in Bochum, war Scholl-Latour unter anderem Direktor des WDR, Chefkorrespondent des ZDF, Herausgeber des Stern und ist Träger des Gerhard-Löwenthal-Preises für Publizistik. Inzwischen ist er seit über zwanzig Jahren freier Autor. Seit 2003 schreibt er auch für die JUNGE FREIHEIT. Zuletzt in JF 22/11 den Beitrag „Salafisten, die neue Gefahr?“

Foto: Aufstand in Ägypten: „Die islamische Welt hat ihre eigene kulturelle, gesellschaftliche und politische Entwicklung ... Die Dinge dort werden sich auf andere Weise vollziehen als bei uns.“

 

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