© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/11 / 16. Dezember 2011

Die Wut der jungen Zornigen
Rußland: Die Generation Putin setzt das System Putin unter Druck / Unerfüllte Versprechungen bringen das Faß zum Überlaufen
Thomas Fasbender

Die Chancen stehen gut, daß der vergangene Samstag in den Geschichtsbüchern das Ende der postsowjetischen Ära markiert. Zum ersten Mal meldete sich die Generation der 25jährigen, die keinen Kommunismus mehr kennt, außerhalb der virtuellen Welt des Internets zu Wort. Viele Ältere fühlen sich mitgezogen, aber die Energie geht von der Jugend aus. In den vergangenen Jahren haben sich oppositionelle Strömungen gebildet, die mit den etablierten Strukturen wenig gemein haben. Sie schillern und sind politisch kaum faßbar, haben ihre Wurzeln im Internet und spiegeln generationsspezifische Stimmungen.

Ein Auslöser waren die groß angekündigten Maßnahmen von Dmitrij Medwedew gegen Mitte seiner Präsidentschaft – Kampf der Korruption, Stärkung des Rechtsstaats, Eindämmung der Beamtenwillkür. Als sich abzeichnete, daß es im Ergebnis bestenfalls zu kosmetischen Korrekturen kam, begann die Stimmung zu kippen.

Im vergangenen Winter äußerten sogar Gesprächspartner aus dem Sicherheitsapparat, vor wenigen Jahren noch glühende Putin-Verehrer, ihr heftiges Mißfallen. Die feudalen Strukturen, die sich immer stärker abzeichnen, demotivieren auch die Stützen des Systems.

Die Dumawahlen brachten das Faß schließlich zum Überlaufen. In den Tagen danach sprach buchstäblich jeder über Politik. Was am meisten zu ärgern schien: Die Leute fühlten sich für dumm verkauft. Über ein 99,9-Prozent-Ergebnis hätten sie noch lachen können. So aber hatte man sie zu Komplizen gemacht, ihnen sogar die Verantwortung für das Ergebnis untergejubelt.

Mehr als 30.000 waren am Samstag auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz versammelt. Auffallend war das geringe Interesse an den etablierten Köpfen der Opposition. Ihre Gesichter sind abgenutzt, verzehrt im gegenseitigen Konflikt und in Arrangements mit der Macht.

Überhaupt haben Politiker wie Boris Nemzow oder Grigorij Jawlinski ihre meisten Anhänger in den Reihen der urbanen Intelligenz, im Umfeld der organisierten Zivilgesellschaft mit Bürgerrechtsgruppen nach westlichem Muster. Das ist aber nicht das Milieu, in dem der Großteil der jungen Zornigen verwurzelt ist. Sie sind mit dem neuen Kapitalismus aufgewachsen, und als Angehörige der Mittelschicht wissen sie, was Erfolg ist. Ihr Revier ist das Internet, ihre Geisteshaltung eine postideologische Mischung aus Idealismus, oft einem ausgeprägten Stolz auf das eigene Land und der heftigen Lust, frei und jung zu sein.

Schon mehr Applaus als die Parteivertreter erhielten Redner wie der TV-Moderator Leonid Parfjonow, der Krimiautor Boris Akunin oder der Journalist Oleg Kaschin, der aufgrund seiner Enthüllungsgeschichten 2010 fast zu Tode geprügelt wurde und einen Brief des inhaftierten Alexej Nawalny verliest.

Der 35jährige Alexej Nawalny ist die Lichtgestalt unter den neuen Oppositionellen. Er ist Blogger und Online-Kämpfer gegen Korruption und Willkür. Seine Internetseite „RosPil“ ist eine Art Wiki-leaks-Pendant, wo er Korruptionsfälle in der Verwaltung an den Pranger stellt. Ebenso bekannt sind seine Kampagnen für transparentes Management in den Staatsbetrieben.

Nawalny ist politisches Urgestein mit Zukunft, dazu bekennender Patriot mit einem deutlichen Stich ins Nationalistische. Seine Distanz zu den etablierten Parteien nach dem Ausschluß aus Grigorij Jawlinskis „Jabloko“ im Jahr 2007 ist typisch für eine ganze Generation. Sie verleiht ihm einen Grad an Glaubwürdigkeit, den man in der postsowjetischen politischen Klasse sonst nicht findet.

Völlig offen ist, wie es weitergeht. Putin spielt auf Zeit. Daß die Wahlen wiederholt werden, ist unwahrscheinlich. Aber auch so sitzt die Opposition am langen Hebel, denn im März wird der nächste Präsident gewählt. Diktatorisch kann Putin nicht regieren, und starke Herausforderer werden bereits in Stellung gebracht.

Foto: Protest gegen Wahlbetrug, Korruption und Beamtenwillkür: Der Elan der Blogger-Generation überrascht

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