© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/11 / 16. Dezember 2011

Pankraz,
M. Mann und der Frosch in der Quappe

Eine Raupe und der aus ihr entstehende Schmetterling enthalten das genau gleiche Genom, und nicht anders verhält es sich mit einer Kaulquappe und dem aus ihr hervorgehenden Frosch. Ihre jeweiligen Gene sind völlig identisch und verändern sich das ganze Leben lang nicht. Doch die unendlich vielen übrigen Proteine, also die Eiweißstoffe, aus denen sowohl der Raupen- wie der Schmetterlingskörper besteht, sind keineswegs identisch, und sie verändern sich dauernd und oft auf rapide Weise. Wie kann das sein? Was passiert da?

Schließlich gibt es kaum verschiedenere Gestalten als eine plumpe Raupe einerseits und einen fein differenzierten, vielgestaltigen Schmetterling andererseits. Darüber kann man nicht einfach hinweggehen, indem man sagt: „Die Gene bestimmen das eben. Sie selbst ändern sich zwar nicht, aber ihre bloße Präsenz verändert dauernd und radikal das gesamte Proteingerüst eines Lebewesens.“ Eine ganze neue Wissenschaft ist vielmehr zur Lösung dieser Frage angetreten, die „Proteomik“, die Lehre von den Proteinen.

Professor Matthias Mann (52), Direktor am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried und absolute Autorität auf dem Gebiet der sogenannten Massenspektrometrie, ist soeben von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit dem hochdotierten Leibniz-Preis für Wissenschaftsförderung bedacht worden, um erhellendes Licht auf die Rätsel der Proteomik zu werfen, sie gewissermaßen im Stile moderner Nanowissenschaft zu immer fundamentaleren, genuin atomaren Strukturen vorzutreiben. Die Erwartungen der Gelehrtenwelt sind hochgespannt.

Bei der Massenspektrometrie handelt es sich um eine Methode, aus einem Arom oder Molekül Elektronen zu entfernen und das „Teilchen“ dadurch positiv aufzuladen, es zu „ionisieren“. Man kann es dann an andere, „neutrale“ Atome/Moleküle anlagern und diese in vielfacher Weise beeinflussen, sie gleichsam „durchsichtig“ machen und ihre Massenverhältnisse analysieren; deshalb das Wort „Massen“-Spektrometer.

Massenspektrometer sind keine Mikroskope, auch keine höchstauflösenden Elektronen-Mikroskope, sie bilden nichts ab, sie liefern „nur“ Daten. Auf die Proteomik angewandt bedeutet das: Man sieht die Proteine nicht im Massenspektrometer, erfährt aber eine Menge über ihre Eigenschaften und Wandlungen. Es ist wie bei den DNA-Analysen der Kriminalpolizei, man sieht dort auch nicht den Verbrecher bei frischer Tat, sondern ermittelt seine genetischen Daten und vergleicht sie mit denen in den Tatspuren.

Nur eben, die genetischen Daten liegen fest; einzig deshalb läßt sich der Täter ja überführen. Der Massenspektrometer hingegen liefert Daten über die Proteine, welche keineswegs festliegen. Das „Proteom“ ist im Gegensatz zum statischen Genom hoch dynamisch und kann sich daher in seiner qualitativen und quantitativen Proteinzusammensetzung aufgrund veränderter Bedingungen (Umweltfaktoren, Temperatur, Genexpression, Wirkstoffgabe usw.) ständig verändern. Seine eventuellen „Gesetze“, das Bleibende in der Bewegung, freizulegen – das ist Aufgabe der proteomischen Massenspektrometrie à la Matthias Mann.

Die Fülle seiner Forschungsansätze flößt Bewunderung und Respekt ein. Mann ist ein Genie sowohl bei der Entwicklung neuer Apparaturen und technischer Methoden als auch bei der Aufstellung erfolgversprechender Hypothesen und fruchtbringender Algorithmen, etwa zur Auffindung und Bestimmung von Proteinmassen oder zur Einordnung einzelner Proteinfragmente. Viele Hoffnungen knüpfen sich an die Arbeit seines Instituts, natürlich – wie könnte es anders sein – vor allem Hoffnungen auf neue wirksame Medikamente und Therapien gegen Krebs, Alzheimer, Diabetes.

Ob man mit Hilfe der proteomischen Massenspektrometrie (pM) je wird klären können, warum sich trotz unveränderten Genoms die Raupe in den Schmetterling und die Kaulquappe in den Frosch verwandeln, steht auf einem anderen Blatt. Zweifellos ist pM bei solcher Ursachenforschung der herkömmlichen Mikroskoptechnik überlegen. Denn in der Mikroskopie regiert unabänderlich das Prinzip Kügelchen. Auch bei höchster Auflösung sehen wir dort am Ende immer nur irgendwelche Kügelchen, die entweder dicht beisammen oder in gewissen Abständen zueinander stehen – und verharren ratlos wie zuvor.

In der pM ist, wie gesagt, gar nichts zu sehen, und bereits das ist ein großer Vorteil. Unsere Erwartung bleibt weiter gespannt. Die zu untersuchende Substanz wird per unsichtbarem Gas ionisiert und durch ein ebenfalls unsichtbares magnetisches Feld beschleunigt, so daß wir ihre Masse messen und sie danach „sortieren“, also in schon vorhandene Datenbänke einordnen können. Nichts ist hier statisch, alles bewegt sich höchst rapide, so daß wir den Eindruck eines sich ewig bewegenden, eines „tanzenden“ Nichts erhalten – eine Vorstellung, die schon die alten Chinesen für das einzig ehrliche Gleichnis für Welt hielten.

Was freilich das Verhältnis der Raupe zum Schmetterling oder der Kaulquappe zum Frosch angeht, so bleibt auch das pM-Modell unbefriedigend. Sicher, atomarer Massentanz von Proteinfragmenten klingt besser als unveränderliches Dabeisein von Genen, doch das Proteom als die Gesamtheit aller Proteine in einem Lebewesen ist viel mehr als unendlicher Zerfall und unendliche Ionisierung von Atomen. Zur Fülle des Lebens gehört mehr als bloßer Tanz ohne Richtung und Ziel, gehören Wachsen und Vergehen, Veränderung und Gestaltwerdung, Form und Wille. Das werden auch Professor Mann und die Biochemiker von Martinsried eines Tages erfahren.

Zur Aufhellung großer Menschheitsfragen taugt ihr Handwerk wohl nicht. Vielleicht kommen aber bald tatsächlich neue Medikamente heraus. Und die Biochemie versteht sich ja keineswegs nur als Grundlagenwissenschaft, insistiert durchaus auf Lebenspraxis und Anwendbarkeit. Die Millionen des Leibniz-Preises sind gewiß nicht verkehrt angelegt.

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