© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/11 / 16. Dezember 2011

Totalitarismus in Reinkultur
Die Arbeiten von Historikern des Deutschen Historischen Instituts in Moskau zum stalinistischen Terror 1937/38 erreichen den Rang eines Standardwerkes
Dag Krienen

Es ist das Jahr 1937, die Zeit des Großen Terrors. Eines Nachts wird in Moskau laut an die Tür einer ehemals hochherrschaftlichen Wohnung geklopft, die nun von mehreren Familien bewohnt wird. Alle verhalten sich still und tun so, als schliefen sie fest. Das Klopfen wird lauter und lauter. Schließlich fängt jemand an, die Tür einzuschlagen. Daraufhin faßt sich einer der Bewohner ein Herz und sagt: ‚Ich bin ein alter Mann, ich werde sowieso bald sterben. Wovor habe ich Angst?’ Er steht auf und geht zur Tür. Wenige Augenblicke später kommt er zurück und ruft freudig: ‘Genossen, Genossen, steht ruhig auf! Es ist nichts, nur das Haus. Es brennt’.“

Der Rezensent hat die Erfahrung machen müssen, daß die meisten Deutschen die makabre Komik dieses russischen Witzes einfach nicht verstehen können. Hierzulande erinnert man sich beim Stichwort „Großer Terror“, wenn überhaupt, nur an jene spektakulären öffentlichen Schauprozesse, mit denen sich Stalin seiner Machtkonkurrenten in Staats- und Parteiapparat sowie Roter Armee entledigte. Daß zur gleichen Zeit, während der (nach dem damaligen Chef der Geheimpolizei so benannten) „Jeschowtschina“ von 1937/38, auch die einfache Bevölkerung mit massiver Verfolgung überzogen wurde, ist hierzulande nie in das Bewußtsein der Öffentlichkeit vorgedrungen. Dies ist nicht die Schuld der historischen Forschung. Diese hat sich nach der teilweisen Öffnung der russischen Archive auch der sogenannten „Massenoperationen“ angenommen. Erinnert sei an das „Schwarzbuch des Kommunismus“ (1997), die Studie von Jörg Baberowski über den Roten Terror (2003) oder das Buch von Karl Schlögel über Moskau im Jahr 1937 (JF 42/08).

In diese Reihe gehören auch die von dem ehemaligen Leiter des Deutschen Historischen Instituts in Moskau, Bernd Bonwetsch, sowie seinen Mitarbeitern Marcus Junge und dem zwischenzeitlich verstorbenen Rudolf Binner herausgegebenen Bände. Sie sind das Produkt eines internationalen Forschungsprojekts, an dem sich auch eine große Zahl russischer und ukrainischer Forscher beteiligt hat. Forschungsgegenstand war eine der „Massenoperationen“ von 1937/38 – jene, die auf der Grundlage des Geheimbefehls No. 00447 des Volkskommissars des Innern vom 30. Juli 1937 als „Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente“ durchgeführt wurde. Die meisten Erträge dieses Projekts wurden bereits auf russisch publiziert. Die beiden Bände aus dem Akademie-Verlag machen wesentliche Ergebnisse und Dokumente (Band 1) sowie eine Reihe regionaler Einzelstudien (Band 2) auch dem deutschen Leser zugänglich.

Die von den Schergen so benannten „Kulakenoperation“ richtete sich von Anfang an vor allem gegen das einfache Volk. Das zeigen die Ergebnisse auch dieses Projekts. Unter den als „Kulaken“ rubrizierten Opfern des Befehls 00447 waren nur wenige ehemalige Großbauern. Getroffen hat es meist Klein- und Mittelbauern sowie vom Lande stammende Arbeiter, die in irgendeiner Weise „auffällig“ geworden waren oder das Mißfallen der Kolchosleitungen oder der Dorfsowjets erregt hatten. Ähnliches gilt für die als „Kriminelle“ Verfolgten, bei denen es sich meist um Kleinkriminelle, Hooligans und „Personen ohne bestimmte Arbeit“, das heißt Arbeitslose und -scheue, Landstreicher etc. handelte.

Als „antisowjetische Elemente“ hingegen wurden vor allem einfache Gemeindepriester und -aktivisten, das Fußvolk der „Ehemaligen“ (ehemals zaristische Beamte, „Weißgardisten“ und andere Gegner aus dem Bürgerkrieg 1917 bis 1922) sowie als „Wirtschaftsschädlinge“ denunzierte mißliebige Facharbeiter und Ingenieure verfolgt und verurteilt.

Der Befehl 00447 setzte zwar die offiziellen strafrechtlichen Normen außer Kraft, bestimmte aber dennoch ein geregeltes Verfahren zur Feststellung der „Schuld“ der Betroffenen. Und dieses Verfahren wurde der Form nach auch durchgeführt, bis hin zum abschließenden Urteil einer „Troika“, gebildet aus den regionalen Chefs von NKWD („Verwaltung des Volkskommissariats des Inneren“), Staatsanwaltschaft und Partei. In der Realität waren diese Verfahren von kafkaesker Absurdität, wie die Bände minutiös und eindrucksvoll zeigen. Die Troikas entschieden oft mehrere hundert Fälle pro Tag – und zwar nahezu ausnahmslos entweder im Sinne eines sofort zu vollstreckenden Todesurteils oder einer Verurteilung zu acht bis zehn Jahren Arbeitslager.

Die Arbeit der Verfolger wurde dabei durch „Limits“ geprägt, die vom Politbüro auf die einzelnen Regionen verteilten Quoten an jeweils zum Tode oder zu Lager zu verurteilenden „Feinden“ der verschiedenen Kategorien. Dies führte in der Praxis zu einer schematischen, fließbandartigen Bearbeitung der Fälle und Verurteilung der Opfermassen. Dabei ging der NKWD in der Regel zwar durchaus gezielt gegen schon vorher auffällig gewordene „Elemente“ im Volk vor. Um die gesetzten Quoten zu erreichen, wurden jedoch ihre banalen oder verjährten Verfehlungen und oft auch nur ihr „Klassen-Hintergrund“ zu grotesk konstruierten schweren antiso-wjetischen Verbrechen aufgebauscht und umgefälscht. Zudem wurden wiederholt – meist sogar auf Initiative der regionalen NKWD-Organe – die jeweiligen „Limits“ erhöht und die ursprünglich bis Ende 1937 terminierte Operation immer wieder verlängert. Endgültig abgebrochen wurde sie erst im November 1938, wobei sie allerdings in vielen Regionen schon früher auslief.

Die drei deutschen Bearbeiter kommen zu dem Schluß, daß „den Verfolgungen, denen die einfache sowjetische Bevölkerung ausgesetzt war, neben willkürlichen Aspekten eine bürokratische, staatsterroristische Rationalität innewohnte, in der sich der Anspruch spiegelte, die Gesellschaft planmäßig von ‘sozial bzw. systemfremden’, der Besserung im Sinne der Staatsziele offenbar unzugänglichen Menschen zu säubern.“ Sie korrigieren damit das von einem Teil der Forschung bislang gezeichnete Bild eines sich ständig steigernden „Terrors nach Quote“, der seine Opfer völlig willkürlich auswählte.

Die „Massenaktion“ gemäß Befehl 00447 stellt sich für sie „nicht nur oder vielleicht sogar weniger als ‘wahllose Gewaltausübung zum Zwecke der Einschüchterung’ (...) bzw. als ‘Gewaltausübung gegen Einzelne zur Einschüchterung der Vielen’ dar (...), was er zweifellos tat, sondern, und das ist das Neue und zutiefst Erschreckende, als eine ganz ‘normale’ bürokratische Maßnahme zur Durchsetzung einer sozialistischen Gesellschaft stalinistischer Prägung“.

Die Bilanz des Befehls 00447, „dessen Durchführung unter die größten bürokratisch organisierten Verbrechen des 20. Jahrhunderts einzureihen ist“, war verheerend. Zwischen Juli 1937 und November 1938 wurden etwa 800.000 Menschen verurteilt, davon rund die Hälfte zum Tode. Das heißt, allein auf der Basis des Befehls 00447 wurde jeweils knapp ein Viertelprozent der sowjetischen Bevölkerung binnen 16 Monaten erschossen oder wanderte in den GULag. Nahezu zeitgleich wurden, auf Basis separater Befehle, noch weitere „Massenaktionen“ durchgeführt.

Dazu gehörten eine Reihe von „nationalen Operationen“ gegen Polen, Deutsche, Letten, Finnen und andere Minderheiten, denen mehr als 350.000 Menschen zum Opfer fielen, von denen 250.000 erschossen wurden. Weitere Opfer forderten die „politischen Operationen“ gegen diverse „rechte“ Gruppen, „Rechtsabweichler“, „Trotzkisten“ etc. Eine unvollständige NKWD-Statistik spricht von rund 670.000 im Rahmen aller Massenoperationen Erschossenen und insgesamt 1,5 Millionen Inhaftierten. Auf diese Weise wurde mitten im Frieden gut ein Prozent der Bevölkerung des Landes getötet oder in die Lager geschickt, in manchen Städten wie Nowosibirsk waren es fast fünf Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung.

Selbstredend haben auch diese voluminösen Bände zum Großen Terror wie ihre Vorgänger außerhalb der Osteuropa-Forschung kaum Aufmerksamkeit in den öffentlichen Medien gefunden. Sie eröffnen einen allzu erschreckenden Blick in das mörderische Mahlwerk des „anderen Zivilisationsbruchs“ (Karl Schlögel) des 20. Jahrhunderts. Nicht allein die Zahl der Opfer erklärt dieses mediale Ignorieren. Noch etwas anderes dürfte linken Ewiggestrigen oder Stalinismusverklärern gegen den Strich gehen: Zu deutlich wird, daß es vor allem das einfache Volk, der Demos, war, dem es an den Kragen ging und auch gehen sollte.

Doch was bewog Stalin nach der „Entkulakisierung“ Anfang der dreißiger Jahre im Sommer 1937 dazu, mitten im Frieden einen neuen Krieg gegen das eigene Volk zu entfesseln? Leider enthalten sich Bonwetsch, Binner und Junge bewußt der Antwort auf diese Frage. Andere Forscher vertreten die durchaus plausible These, daß es den sowjetischen Machthabern 1937 darum ging, nach zwei Jahrzehnten revolutionären Umbruchs endlich so etwas wie „Normalität“ und „Demokratie“ in der Sowjetunion zu inszenieren. Doch eine solche „normale Situation“ zu schaffen, in der die Herrschaft der Bolschewiki und Stalins nicht sofort in Frage gestellt worden wäre, machte es nötig, zuvor ein für allemal nicht nur die expliziten Gegner, sondern alle potentiell „störenden Elemente“ zu „entfernen“.

Die Blutspur, die dabei gezogen wurde, mag ein Merkmal der stalinistischen Bürokratie gewesen sein. Das dahinterstehende Denkmuster ist aber keineswegs ausgestorben. Eine neue, friedfertige, brüderliche Gesellschaft zu schaffen, die nur und erst genau dann funktionieren kann, wenn man alle mutmaßlichen „Störer“ zuvor „ausgeschaltet“ hat, spukt immer noch in vielen Köpfen herum. Und eine Bürokratie, die Zwang zu einem entsprechend konformen Verhalten des Volkes mit allerlei, wenn auch vielleicht nicht mehr unbedingt blutigen Mitteln auszuüben bereit und in der Lage ist, steht in modernen Zeiten allemal bereit.

Rolf Binner, Bernd Bonwetsch, Marc Junge (Hrsg.): Massenmord und Lagerhaft. Die andere Geschichte des Großen Terrors. Akademie Verlag, Berlin 2010, gebunden, 821 Seiten, 39,80 Euro

Rolf Binner, Bernd Bonwetsch, Marc Junge (Hrsg.): Stalinismus in der sowjetischen Provinz 1937–1938. Die Massenaktion aufgrund des operativen Befehls No 00447. Akademie Verlag, Berlin 2010, gebunden, 732 Seiten, 39,80 Euro

Foto: Denkmal für die 1937 vom NKWD ermordeten ukrainischen Intellektuellen in Pyatykhatky bei Charkow: „Bürokratische Maßnahme zur Durchsetzung einer sozialistischen Gesellschaft stalinistischer Prägung“

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