© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/11 / 16. Dezember 2011

Nach dem Dammbruch
Das PID-Gesetz verabschiedete die „Kultur bedingungsloser Lebensannahme“ / Egoistisches Verständnis von Mündigkeit?
Arne Zeller

Nachdem sich der Bundestag mit der im Juli gefällten Entscheidung für ein großzügiges Gesetz zur Präimplantationsdiagnostik (PID) in die Parlamentsferien verabschiedet hatte (JF 29/11), schien ein heiß umkämpftes Thema verschwunden zu sein. Die Karawane zog weiter zur „Euro-Rettung“, die den Polit- und Medienbetrieb im Bann hält und die PID-Kontroverse wie einen Zwergenaufstand antimoderner Moralisten aussehen läßt. Die Verlierer der Auseinandersetzung, die Verfechter eines strikten PID-Verbotes, schauen dem Zug der Zeit inzwischen machtlos hinterher.

Was ihnen bleibt, ist die kulturpessimistische Klage über einen weiteren Triumph naturwissenschaftlich-technizistischer Machbarkeitsideologie über letztlich als „mittelalterlich“ und „gegenaufklärerisch“ ausgemusterte christliche Wertorientierungen. Daher klingt die Philippika des 1964 in Italien geborenen Freiburger Internisten und Medizin-ethikers Giovanni Maio, den die eher liberal-katholische Herder Korrespondenz (11/11) jetzt veröffentlicht, wie ein Abgesang auf den alteuropäischen Verhaltenskodex. Für Maio ist der neue Umgang mit menschlichem Leben, der Ungeborene zur Disposition von Ge­ne­
tikern, Embryologen und Eltern stellt, schlicht ein gesamtgesellschaftlicher „Paradigmenwechsel“, ein „Dammbruch“, der die Selektion zwischen Lebenswertem und Lebensunwertem legalisiere.

Doch sowenig wie bislang ernstzunehmender Protest gegen die im Wochentakt gebrochenen Versprechungen zur Stabilität des Euro aufflackert, so wenig macht sich „Verstörung“ über die PID-Weichenstellung bemerkbar. Auch bioethisch könnte das Grundgesetz darum längst dem Marsch in eine andere Republik im Wege stehen. Maio, Mitglied des Ethikbeirates der Malteser und Berater der Bischofskonferenz, interpretiert die vorherrschende Indolenz als Folge einer Gewöhnung an die Relativierung des Lebens, die aus der Praxis des staatlich tolerierten Schwangerschaftsabbruchs erwachsen sei. Bei der millionenfachen Tötung ungeborenen Lebens habe ein „generelles Machbarkeitscredo der modernen, technizistisch denkenden Medizin“ obsiegt, das die „Freiheit des Individuums“ gegen das „Schicksal“ der Mutterschaft zu wahren vorgab.

Für die PID-Befürworter bedeute die genetische „Belastung“ von Embryonen folglich nur eine Variante in ihrem Feldzug gegen das schicksalhaft Unverfügbare: Nicht allgemein die Mutterschaft gelte es zu verhindern, sondern die Geburt eines Kindes mit Behinderungen. An das „Reproduktionsmanagement“ werden damit nur höhere Anforderungen gestellt, aber der Geist des Abschieds von einer Kultur der bedingungslosen Annahme des Lebens ist stets derselbe. Er verfeinert und verfestigt sich nur.

Daß die PID-Methode des „Aussortierens“ angeblich nicht lebensfähiger Embryonen von der Mehrheit der Parlamentarier als „Hilfestellung für den mündigen Bürger“ gepriesen und als Werkzeug zur „Meisterung des Schicksals“ verkauft worden sei, offenbare lediglich ein kraß egoistisches Verständnis von Mündigkeit: „Mündig sein hieße nach dieser (...) Vorstellung, konsequent seinen Interessen zu folgen, und sei es auf Kosten von Embryonen“, so Maio. Mit der kantischen Definition habe das nichts zu tun, denn diese impliziere die Fähigkeit des Menschen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, mithin nicht nur nach seinen Neigungen, sondern nach seiner Vernunft zu handeln. Nicht einer „Humanisierung der Gesellschaft“ leiste das PID-Gesetz Vorschub, sondern, so wäre Maios Argumentation zuzuspitzen, ihrer Entmenschlichung. Sein Appell, darüber „nicht einfach zur Tagesordnung zurückzukehren“, dürfte jedoch ungehört verhallen. Die sozialökonomischen Verhältnisse könnten sich aber vielleicht so zuspitzen, daß nicht allein ein „Nachgang“ zur PID-Kontroverse Maios Hoffnung stützt, endlich darüber nachzudenken, „in welcher Gesellschaft wir leben wollen“.

Der Schützenhilfe katholischer Moraltheologen darf sich der Medizinethiker Maio dabei sicher sein, wie eine Wortmeldung Klaus Demmers belegt (Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 1/11), der die Angebote der Reproduktionsmedizin aus den Fehlentwicklungen der „modernen Arbeitswelt“ erklärt, die unter dem Diktat der offenbar zusehends skeptisch gewerteten „wachsenden Europäisierung und Globalisierung“ entstanden sei.

Institut für Ethik und Geschichte der Medizin: www.igm.uni-freiburg.de

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