© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/11-01/12 / 23./30. Dezember 2011

Pankraz,
Jean Paul und die harte Genußarbeit

Ausgerechnet vor den Weihnachtsfeiertagen wird uns jetzt sogar noch das Genießen zur harten Arbeit gemacht, zur „Genußarbeit“. Gerrit Bartels verbreitet sich im Berliner Tagesspiegel über die aktuelle Situation jüngerer Schriftsteller und rät ihnen, bei ihrer „Selbstverwirklichung“ und „Selbstoptimierung“ endlich das rechte Maß zu finden „zwischen Leistungsdruck und Genußarbeit“. Das ist etwa so wie in der Geschichte von Buridans Esel, dem man zwei völlig gleiche Heubündel vors Maul hält und der verhungert, weil er sich nicht für eines entscheiden kann.

Ob Bartels daran gedacht hat, daß einstmals in der Sprache der alten Germanen „arbeiten“ und „genießen“ tatsächlich oft dasselbe bedeuteten? Noch im Mittelhochdeutschen meinte „genieszen“ nichts weiter als „etwas benutzen“, im genaueren Sinne: „etwas gemeinsam benutzen“, einen gemeinsamen „Nießbrauch“ von ihm haben. Das Wort „Genosse“ leitet sich davon ab. Ein Genosse war einer, mit dem man eine Sache gemeinsam nutzte, zum Beispiel mit ihm zusammen auf Jagd ging oder eine gemeinsame Unterkunft errichtete.

Mit sich ausfaltender kultureller Entwicklung fielen Arbeit und Nießbrauch immer weiter auseinander, im selben Takt wie das Leben sich individualisierte und mehr Freizeit gewann. Der „Genuß“ wurde allmählich geradezu zum Gegenteil von Arbeit, Mühe, Alltragstrott, verband sich mit Begriffen wie Luxus, Ausnahmesituation, Über-die-Stränge-schlagen. Das erste Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm von 1838 vermerkt unter dem Stichwort „Genuß“: „Unmittelbare Stillung einer Begierde, besonders der Begierde nach Verbotenem, Süßem oder Narkotisierendem“.

Inzwischen weiß man natürlich, daß man nicht nur Süßes und Verbotenes, sondern auch höchst Erlaubtes (wie etwa weihnachtliche Feiertagsruhe) und sogar „Immaterielles“, Lektüren, Gottesdienste, Kunstereignisse, genießen kann. Auch mit der behaupteten Unmittelbarkeit ist es in vielen Fällen nicht weit her. Wenn einer zum Beispiel sein glückliches Familienleben oder sein gesundes, behagliches und finanziell abgesichertes Alter genießt, dann ist das eindeutig ein langer, durch vielerlei Umstände vermittelter Prozeß.

Zu 68er-Zeiten gab es hierzulande einen weitverbreiteten Aufkleber, der unzählige Bürotüren und vor allem Autoscheiben zierte: „I like Genuß sofort“. Das dümmliche Pidgin-Deutsch der Parole, ursprünglich eine Reklame für Nescafé, war geeignet, Aggressionen freizusetzen, und das sollte es wohl auch. So mancher Verkehrsteilnehmer mag damals versucht gewesen sein, das Fahrzeug des jeweiligen Bekenners hinterrücks zu rammen, um diesem zum „sofortigen Genuß“ eines Auffahrunfalls zu verhelfen.

Genuß und Sofortigkeit schließen sich weitgehend aus, wie schon jedes Kind weiß, wenn es sein Eis mit demonstrativer Bedächtigkeit schleckt. Der Genuß des ersten Schlecks ist um so größer, je länger das Kind auf die Eiswaffel hat warten müssen, und der zweite, dritte und vierte Schleck steigern den Genuß an der Sache noch beträchtlich, so daß es gilt, nicht zu gierig zu sein. Und mit der Struktur erwachsener Genüsse verhält es sich nicht viel anders.

Wenn man ihrer sofort und ohne alle Anstrengung habhaft werden kann, sind sie keine, und wenn man sie einmal hat, kommt es darauf an, sie zu strecken und hinauszuzögern, sie ihrer Sofortigkeit zu entkleiden, damit sie sich auch wirklich genießen lassen. Die raffiniertesten Genießer sind sogar der Meinung, daß der größte Genuß erst im nachhinein eintritt, daß man erst „danach“ sagen kann, ob man eine Sache tatsächlich genossen hat oder nicht. „Die Probe eines Genusses“, sagt Jean Paul in seinem Erziehungsbüchlein „Levana“ von 1808, „ist seine Erinnerung.“

Der unvermittelte, sofortige Genuß scheint vor diesem Diktum eher eine spezielle Form existentieller Qual zu sein, Moment einer fatalen Daseinsverfehlung. „So tauml’ ich von Begierde zu Genuß / Und im Genuß verschmacht ich nach Begierde“, seufzt Goethes Faust, und er sieht dabei keinesfalls sonderlich glücklich aus. Von außen betrachtet wirkt er sogar abstoßend und mitleiderregend.

Jean Paul schreibt in seiner „Levana“: „Jeder Genuß, und wär es der feine eines Kunstwerks, gibt dem Menschen eine selbstische Gebärde und entzieht ihm Teilnahme. Daher ist der Genuß nur Bedingung eines Bedürfnisses, nicht der Tugend. Hingegen Heiterkeit – der Gegensatz des Verdrusses und Trübsinns – ist zugleich Boden und Blume der Tugend. Tiere können genießen, aber nur Menschen können heiter sein.“

Die Entdeckung der Heiterkeit als Widerpart des Genusses war zweifellos ein großer Wurf. Pankraz würde indessen nicht so weit gehen, dem Genuß jegliche höhere Aura abzusprechen und ihn ins Reich des bloß Tierischen zu verweisen (übrigens mißtraut er auch der Kategorie des „bloß Tierischen“). Ein Leben ohne Phasen reinen Genießens ist gar nicht vorstellbar. Selbst die Bibel (Jesus Sirach, 14,14) empfiehlt ja in Maßen „erlaubten Genuß“. Es gibt Formen des Genießens, die sich jedes behagliche Schmatzen versagen, die sich in einer bewußten, emphatischen Wahrnehmung des Daseins erfüllen und die damit selbst schon von höherer Heiterkeit zeugen.

Auch sie sind freilich ausschließlich auf Verbrauch des Daseins aus und unterscheiden sich genau dadurch negativ von der Heiterkeit des grundsätzlich nicht zu befriedigenden Strebens und Sehnens. Nur diese ist davor gefeit, jemals stockig oder sauer zu werden. Daß der Hedonismus, die Philosophie der perfekten Genußbefriedigung, das unerfüllbare Streben ausblendet, macht seine Schwäche aus und rückt auch noch seine größten Vertreter, Epikur oder Schopenhauer, in ein nicht ganz erstklassiges Licht.

Viel wäre allerdings schon gewonnen, wenn heutige Genußarbeiter à la G. Bartels wenigstens ein bißchen Epikur oder Schopenhauer lesen würden. Sie würden dann erfahren, daß selbst Schriftsteller erst einmal richtig arbeiten müssen, bevor sie etwas genießen können.

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