© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/12 06. Januar 2012

Hilfe zur Selbsthilfe
Solidarhaftung: Die Vereinten Nationen haben 2012 zum Jahr der Genossenschaften erklärt
Robert Backhaus

Der Winter 1846/47 war in  ganz Deutschland ein gräßlicher Hungerwinter. Vorher hatte es eine Mißernte ohnegleichen gegeben, die Getreidekammern der Bauern blieben faktisch leer, die Brotpreise stiegen ins Unermeßliche. Unzählige Menschen besonders aus den kleinen Gemeinden und auf dem flachen Land verhungerten, andere ballten sich zu förmlichen Raubzügen zusammen, um etwas Eßbares zu erlangen, oder sie flüchteten in die großen Städte, wo sie irgendeine bezahlte Beschäftigung in den neuen Fabriken zu finden hofften.

In dieser verzweifelten Lage bewährten sich in Preußen spektakulär zwei Männer, die der Not mit neuartigen Ideen und mit einem außerordentlichen Geschick für gute Organisation entgegentraten: Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) aus Hamm an der Sieg und Franz Hermann Schulze (1808–1883) aus Delitzsch in der preußischen Provinz Sachsen. Sie gelten heute zu Recht als die Schöpfer des modernen Genossenschaftswesens und werden von den UN, die 2012 zum „Jahr des Genossenschaften“ ausgerufen haben, hochgeehrt.

Der eine, Raiffeisen, war Ex-Offizier und Bürgermeister einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Neuwied, der andere, Schulze, Jurist und Patrimonialrichter über mehrere Rittergüter rund um seine Heimatstadt. Beide waren überzeugte Liberale, die nichts mit Sozialisten, Revolutionären oder gar „Entpropiierern“ zu tun haben wollten. Ihr Kampfruf lautete: „Hilfe zur Selbsthilfe!“ Man dürfe nicht auf Hilfe von oben oder außen warten, sondern müsse sie selbst organisieren, das heißt, die  Leidensgenossen müßten sich zu aktiven Hilfsgenossen wandeln; die bürgerliche, liberale Gesellschaft biete hinreichend Möglichkeiten dazu.

Sowohl Schulze als auch Raiffeisen gründeten 1846/47 zahlreiche Hilfskomitees zur Beschaffung von Getreide und zur Aufrechterhaltung eines ordentlichen Mühlen- und Bäckereibetriebs, aber ihre Maßnahmen reichten bald weit über solches Löcherstopfen hinaus, eröffneten dauerhafte Ausblicke. Die kleinen Landwirte und Handwerker sollten nicht „in die Hände von städtischen Wucherern fallen“ (Raiffeisen), sie sollten lieber eigene Banken gründen, dabei maßvoll und bescheiden bleiben und stets auch an die Genossenschaft denken.

1864 wurde auf Initiative Raiffeisens in Heddesdorf bei Neuwied der erste „Darlehnskassenverein“ eröffnet, die Urzelle aller Raiffeisen- und Genossenschaftsbanken. Und es blieb beileibe nicht bei den Banken und bei den kleinen Landwirten. Schon 1849 hatte Schulze in Delitzsch eine „Schuhmachergenossenschaft“ ins Leben gerufen und damit die Genossenschaft als unternehmerische Rechtsform begründet. Bald propagierte er – bei wachsendem Widerhall – Spar- und Konsumvereine, Vorschuß- und Kreditvereine (die heutigen Volksbanken), Distributiv- und Produktionsgenossenschaften.

Das System aller dieser Genossenschaften beruhte auf der „Solidarhaftung“, also dem Erwerb von Genossenschaftsanteilen, der Beschränkung aller Leistungen auf die Genossen und der Ablehnung direkter Unterstützung durch den Staat. Diese Idee der strikten Staatsferne und Partei-Enthaltsamkeit verteidigte Delitzsch sein Leben lang mit solcher Härte und Entschiedenheit, daß es darüber sogar zu bitteren Auseinandersetzungen mit dem in dieser Hinsicht „gemäßigteren“ Raiffeisen kam.

Freilich nicht Raiffeisen, sondern Hermann Schulze (der sich von da an Schulze-Delitzsch nannte) ging in die große Politik, gründete 1861 die liberale Deutsche Fortschrittspartei und zog mit ihr in den Preußischen Landtag und später in den Reichstag ein. Bis zu seinem Tod blieb er Reichstagsabgeordneter, setzte als solcher das Genossenschaftsgesetz in Preußen und im Reich durch und lieferte sich wortmächtige Schlachten mit den Sozialdemokraten, insbesondere mit Ferdinand Lasalle.

Lasalle nannte ihn einen „typischen Vertreter des Manchester-Kapitalismus“, weil Schulze-Delitzsch dem Kapitalismus angeblich völlig freie Hand lassen, ihn nicht von den Parteien und vom Staat „verunstaltet“ sehen wollte. Aber just damit lag der Sozialist vollkommen schief. Inzwischen sind wir ja gründlich darüber belehrt, wohin es führt, wenn der Staat, respektive die jeweils alleinseligmachende Partei, sich des Genossenschaftsgedankens bemächtigt – und darüber alle „Genossen“ unversehens zu Knechtsfiguren degradiert. Eine schlimmere Perversion hat es in der Geschichte kaum gegeben.

Aber auch der reine Manchesterkapitalismus, das Profitmachen allein um des Profits willen, sieht im Vergleich zum Prinzip der Solidarhaftung à la Raiffeisen und Schulze-Delitzsch nicht gut aus, gerade jetzt in der Finanzkrise. Mag sein, dem System der Volksbanken, der Konsumvereine und der gegenseitigen Solidarhaftungen eignet etwas Provinzielles und vorgestrig Regionales, doch so ist der Mensch nun mal: ein Provinzler und primär seiner engeren Umgebung zugetan. Wer möchte schon dauernd um die globalisierte Welt rasen, um Profit und nichts als Profit zu machen!

Ein Weiteres steht mittlerweile auch fest: Die Raiffeisen- und Volksbanken sind bisher besser über die Krise gekommen als Société générale, Deutsche Bank oder UBS. Bescheidenheit und Sich-aufeinander-Verlassen zahlt sich letztlich aus, sowohl für den einzelnen als auch für die Solidargemeinschaft im ganzen. Es bringt nichts, sich dauernd nur gegenseitig übers Ohr zu hauen. Sogar die UN wissen das; weshalb sonst hätten sie ausgerechnet das im Zeichen tiefster ökonomischer und existentieller Krisen stehende Jahr 2012 zum Jahr der Genossenschaften erkoren?

Das Genossenschaftswesen ist, Raiffeisen und Schulze-Delitzsch zum Trotz, keine genuin deutsche Erfindung. Es liegt in der menschlichen Natur, und alle Epochen haben ihm auf ihre Weise gehuldigt, das Mittelalter mit seinen Zünften wie das anbrechende Industriezeitalter mit seinen grimmigen Spontangewerkschaften in England und Schottland.

Die meisten Bewegungen schliefen wegen mangelnder Organisation bald wieder ein, bis eben Raiffeisen und Schulze-Delitzsch kamen, beides Organisationsgenies und geduldige Dickbrettbohrer. Ihre bahnbrechenden Schöpfungen wurden Zug für Zug in vielen Ländern aufgenommen und den jeweiligen örtlichen Verhältnissen angepaßt. Über 300.000 Volksbanken gibt es mittlerweile auf der Welt, und es werden täglich mehr! In Deutschland freilich spricht kaum noch jemand von Raiffeisen und Schulze-Delitzsch. Aber wie sagt schon das Sprichwort? „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land.“

Foto: Sozialreformer Wilhelm Raiffeisen (1818–1888), Logo der Volks- und Raiffeisenbanken in Deutschland: Besser über die Krisen gekommen

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